Es ist verrückt, was die San Francisco 49ers da vorhaben in dieser Saison; auf der anderen Seite: Was wäre die Alternative?
Das American Football-Team hat sich einen Kader gebastelt, mit dem es den Super Bowl holen kann, die Meisterschaft der US-Liga NFL. Vor ein paar Wochen wurde auch noch Christian McCaffrey verpflichtet, einer der besten Laufspieler der Liga. Es passte im Grunde alles - mit dem klitzekleinen Makel, dass die 49ers gerade einem Krankenlager gleichen. Das schlug vor allem auf der Position des Quarterbacks durch, der wohl wichtigsten Planstelle, die es im Mannschaftssport gibt. Der aktuelle Spielmacher der San Francisco 49ers ist nun gerade der Ersatzmann des Ersatzmanns, Brock Purdy heißt er, Spitzname: Mister Irrelevant.
Diese Anrede entspringt einer Tradition, der zufolge der Akteur, der bei der jährlichen Talentbörse zuletzt gewählt wird, ein Trikot mit seinem Ranglistenplatz erhält - Purdy wurde im Frühling der Stelle der Nummer 262 des Jahrgangs gedraftet -, und statt des Nachnamens steht über der Nummer sein Spitzname "Mr. Irrelevant", Herr Unerheblich. Nur: Purdy weigert sich gerade, auch wie ein Herr Unerheblich zu agieren, und das führt nun nicht nur dazu, dass die Buchmacher in Las Vegas die 49ers weiter zu den Titelfavoriten zählen - es könnte auch dazu führen, wie junge Spielmacher künftig bewertet werden.
Vor zwei Wochen führte Purdy die San Francisco 49ers nach seiner Einwechslung zu einem 33:17-Erfolg gegen die Miami Dolphins. So wurde er der erste Mister Irrelevant, der einen Touchdown-Pass warf. Eine Woche später war er gegen die Tampa Bay Buccaneers der erste unerhebliche Quarterback, der von Beginn an spielte, beim 35:7 warf er zwei weitere Touchdown-Pässe und rannte selbst in die gegnerische Endzone. Der gegnerische Spielmacher war Tom Brady - also beste Quarterback der Geschichte. Dessen Draft-Position im Jahr 2000 war übrigens Rang 199, sehr nahe dran am Ehrentitel, den Purdy trug. Schon damals, nachdem Brady aus der Nische des Ersatzmannes gewichen war, hieß es, dass man Spielmacher-Talente anders bewerten müsse: nicht anhand dessen, was sie schon sind, sondern was aus ihnen werden kann.
Selbst Joe Montana traut Purdy den ganz großen Wurf zu
Der Nachwuchs im US-Sport wird komplett anders ausgebildet als etwa im europäischen Fußball. Profiunternehmen fördern ihre Talente nicht selbst. Warum auch, wenn diese beim Draft von anderen Unternehmen gewählt werden können? Im Football bilden die quasi-professionellen Uni-Ligen den Unterbau, die Profiteams durchleuchten den Nachwuchs dort, so weit die Daten sie tragen. Dann wählen sie aus gestandenen Männern jene aus, denen sie das größte Potenzial zusprechen.
Purdy legte eine sehr gute College-Karriere bei Iowa State hin, aber auch das ist ein Problem des Systems: Er spielte sehr gut gegen Kommilitonen, von denen die meisten nach der Uni als Anwälte und Ärzte arbeiten, nicht aber als Football-Profis. Die handelsüblichen Daten spuckten zu Purdy aus: zu klein, zu langsam beim Wurf, zu unbeständig. Was sahen die San Francisco 49ers, Heimat legendärer Spielmacher wie Joe Montana (Nummer 82 des Drafts 1979), Steve Young (1/1984) und John Brodie (3/1957), also in Brock Purdy, dem angeblichen Mister Irrelevant?
Nun, da waren zuerst die Ergebnisse ihres eigenen Tests, der die mentale Stärke von Sportlern misst, also: Wie einer unter Druck reagiert, während 100 Kilo schwere Gegner auf ihn zu walzen, wie schnell er Entscheidungen trifft, ob das die richtigen sind. Ergebnis bei Purdy: Da agiert ein potenzieller NFL-Stammspieler. Am Rest, so sahen die 49ers das, könne man arbeiten.

Das tat Purdy zunächst selbst, indem er dafür sorgte, dass er einen Football acht Stundenkilometer schneller werfen kann. Die 49ers knüpften daran an, sie machten seine Wurfbewegung effizienter, ordneten mehr Muskeltraining an, um die Beweglichkeit zu verbessern, förderten seine kognitiven Fähigkeiten, die sie in den Tests erkannt hatten.
Es half den 49ers, dass Purdy zu Beginn der Saison noch im Schatten der Teamkollegen stand, als wahrhaftiger Mister Irrelevant. Trey Lance und Jimmy Garoppolo buhlten um den Job des Stamm-Quarterbacks; die meisten Beobachter hielten sie für gleichwertig. So war es keine große Sache, als sich Lance am zweiten Spieltag schwer verletzte und für den Rest der Saison ausfiel. Als Garoppolo sich vor zwei Wochen ebenfalls verletzte, schienen die 49ers dann aber doch ein Problem zu haben: Sie hatten Purdy dafür ausgebildet, dass er sein Können irgendwann einmal würde zeigen können, ganz sicher nicht in dieser Saison.
Und Purdy spielte sofort formidabel: Weil auf dieser Position oft Leute brillieren, deren Fähigkeiten sich nicht so einfach messen lassen - wie bei Brady, der mittlerweile sieben NFL-Titel gewonnen hat, oder 49ers-Legende Joe Montana, der mit San Francisco vier Super Bowls gewann und den sie "Joe Cool" riefen, wegen seiner Gelassenheit in kniffligen Momenten.
"Locker bleiben, einfach rausgehen und spielen, auch mal akzeptieren, dass ein Spielzug oder eine komplette Serie nichts klappt": So redet Montana nun über Purdy. Genau so agiert Purdy auch, und deshalb glaubt auch Montana, dass die 49ers mit dem einstigen Ersatz-Ersatzmann schon jetzt den Super Bowl gewinnen können. Am Donnerstag wären sie mit einem Sieg bei den Seattle Seahawks schon vorzeitig für die Playoffs qualifiziert.
Das Problem nur: Purdy ist angeschlagen, die Rippen schmerzen. Die ganze Anhängerschaft der 49ers hofft, dass er dennoch spielen wird. Nicht schlecht für einen, der vor ein paar Wochen noch Mister Irrelevant war.