Cincinnati Bengals:Denn sie wissen nicht, was sie tun werden

Cincinnati Bengals: Raum für Kreativität: Der Quarterback der Bengals, Joe Burrow, bekommt den Ball von einem Mitspieler. Was als Nächstes passiert, entscheidet der 26-Jährige spontan.

Raum für Kreativität: Der Quarterback der Bengals, Joe Burrow, bekommt den Ball von einem Mitspieler. Was als Nächstes passiert, entscheidet der 26-Jährige spontan.

(Foto: Mark Konezny/USA Today/Reuters)

Vorjahresfinalist Cincinnati Bengals spielt erneut um den Einzug in den Super Bowl. Die neue Offensiv-Taktik wirkt wie simpler Bolzplatz-Football - ist aber schwer auszurechnen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Tony Romo war aufgeregt, er hatte beim Viertelfinale der US-Footballliga NFL etwas entdeckt, das er den Zuschauern unbedingt mitteilen wollte: "Da, schauen Sie, schon wieder: Shotgun; einer daneben und auf jeder Seite zwei." Romo war einst Spielmacher der Dallas Cowboys, nun saß er in der Kommentatoren-Kabine des TV-Senders CBS. Er hat sich dort den Ruf erarbeitet, Spielzüge wie ein Orakel vorherzusagen. Und er ist ein Meister in der Kunst, den Zuschauern zu erklären, was da wirklich passiert. Doch nun war Romo völlig begeistert von einer Erkenntnis: "Ich weiß genau, wie sie sich aufstellen - aber ich habe keine Ahnung, was sie tun werden. Das ist faszinierend."

Die, das waren die Cincinnati Bengals, die am Sonntag die favorisierten Buffalo Bills überraschend deutlich mit 27:10 besiegt hatten und die an diesem Sonntag bei den Kansas City Chiefs um den Einzug in den Super Bowl spielen werden. Romo sprach über die Bengals-Offensive vor dem Spielzug: "Shotgun" bedeutet, dass Spielmacher Joe Burrow den Ball nicht vom Mitspieler vor ihm in seine Hände gedrückt kriegt, sondern ein paar Meter dahinter wartet. Mit "einer daneben" ist ein Bengals-Laufspieler gemeint, meistens ist es Joe Mixon. Und "auf jeder Seite zwei" bedeutet: links und rechts jeweils zwei mögliche Anspielstationen für Burrow, die sich freilaufen werden. "Ich habe keine Ahnung, was sie tun werden", sagte Romo noch einmal, und er ergänzte: "Weil die Bengals auch nicht wissen, was sie tun werden."

Willkommen im geplanten Chaos der Bengals, das sie - nachdem sie in der vergangenen Saison den Super Bowl erreicht und knapp gegen die Los Angeles Rams verloren hatten - erst Mitte dieser Saison eingeführt haben. Wer die Partie gegen die Chiefs an diesem Sonntag verstehen möchte, sollte ganz genau darauf achten, was vor den Spielzügen der Bengals passiert.

Football wird, bei allen körperlichen Aspekten, oft als "Rasenschach" bezeichnet, und genau das ist diese Sportart. Die Trainer tüfteln an Spielzügen und an Aufstellungen davor, weil diese Ausgangspunkte die Laufwege von Running Backs und Passempfängern bestimmen. Es gibt zahlreiche Varianten, wie bei der Eröffnung im Schach, und immer geht es darum: Was denkt der Gegner, dass wir denken, dass er denkt?

Was Planer fürchten: Unvorhergesehenes; und genau deshalb feiern Ersatzspieler oft kurzfristig Erfolge in der NFL: weil sich niemand auf sie vorbereiten konnte. Die San Francisco 49ers etwa stehen im zweiten Halbfinale gegen die Philadelphia Eagles - zum einen, weil Brock Purdy, Ersatzmann des Ersatzmanns auf der Quarterback-Position, bei Mitspielern wie Christian McCaffrey oder George Kittle und einer grandiosen Defensive erst mal nur gröbere Fehler vermeiden muss - aber auch, weil die anderen Teams noch immer nicht so recht verstehen, wie dieser Liganeuling tickt. Die Eagles dürften gerade fieberhaft nach Mustern in Purdys bislang erst acht Profispielen von Beginn an suchen.

Zurück zu den Bengals: Da hatten sich die Gegner zu Beginn dieser Saison auf Spielzüge eingestellt, also: Wenn Burrow "Shotgun" positioniert war, folgte in knapp 90 Prozent der Fälle danach ein Pass; wenn er das nicht tat: zu 80 Prozent ein Laufspiel. Niemand ist leichter zu besiegen als Schachspieler oder Footballteams, deren Taktik bekannt ist.

Es wirkt wie Bolzplatz-Football, ist aber höchst kompliziert

Trainer Zac Taylor tat deshalb Mitte der laufenden Saison etwas, das völlig gegensätzlich ist zu den Kernaufgaben eines Chefcoachs, die ja planen und kontrollieren sollen: Er übergab die Kontrolle quasi komplett an Quarterback Burrow. Es gibt nur noch wenige Grundformationen; das wirkt wie Bolzplatz- oder High-School-Football, ist in Wirklichkeit aber höchst kompliziert.

Es funktioniert so: Burrow teilt seinen Kollegen beim Treffen vor Spielzügen nur die Aufstellung mit. Dann versucht er, die Aufstellung der Defensive zu dechiffrieren; er brüllt anhand dieser Analyse den Spielzug - doch damit ist es nicht vorbei: Häufig wählen die Bengals die sogenannte "Run-Pass-Option", das bedeutet: Burrow entscheidet erst nach Spielzugbeginn, wenn er den Ball bereits in der Hand hält, ob es ein Lauf oder ein Pass wird. Er muss also blitzschnell erkennen: Was tut die Defensive? Gebe ich den Ball dem Running Back oder behalte ich ihn für einen Pass?

Die Bengals wissen also tatsächlich nicht, was sie tun werden - und sie wissen es absichtlich nicht. Das ist keine Revolution, die Indianapolis Colts haben so mit Peyton Manning 2007 den Super Bowl gewonnen. Was es braucht: Vertrauen in den Quarterback, und Vertrauen in dessen Mitspieler, dass die scheinbar spontan agieren - obwohl natürlich alles davor bis ins Detail abgesprochen ist. Alle müssen blitzschnell reagieren, als Team.

Cincinnati Bengals: Wird Chiefs-Quarterback Patrick Mahomes wieder rechtzeitig fit, um seinen Spielstil durchziehen zu können?

Wird Chiefs-Quarterback Patrick Mahomes wieder rechtzeitig fit, um seinen Spielstil durchziehen zu können?

(Foto: Denny Medley/USA Today Sports)

Die Bengals haben mit dieser Strategie die letzten acht Spiele der regulären Saison gewonnen und in den Playoffs die Baltimore Ravens (24:17) und die Bills besiegt. Mit einer Zehn-Siege-Serie reisen sie also nach Kansas City, wo Improvisationskünstler Patrick Mahomes wartet, der Spielzüge ebenfalls ändert, während sie passieren, ebenfalls gewollt. Da wird die Frage sein: Wie beweglich wird Mahomes angesichts seines verstauchten Knöchels sein? Viele seiner spontanen Kunstwerke entstehen aufgrund seiner Fähigkeit, heranstürmenden Gegnern auszuweichen und damit Passempfängern mehr Zeit zum Freilaufen zu verschaffen.

Die Frage bei den Bengals: Wie lange ist dieses kontrollierte Chaos unvorhersehbar? Natürlich betrachten die Chiefs-Strategen nun sämtliche Bengals-Spielzüge und suchen nach Mustern: Bei welcher Defensivaufstellung sagt Burrow welchen Spielzug an, wann entscheidet er sich nach Beginn des Spielzugs für Lauf oder Pass - und können wir ihn durch Tarnen und Täuschen zu Fehlern, oder noch besser: zu Vorhersehbarem verleiten?

Genau dieses Rätseln macht die Sportart Football so faszinierend - und wer die Gelegenheit hat, diese Partie im Original-Kommentar zu gucken, der möge das bitte tun. Der Experte am Sonntag: Tony Romo.

Zur SZ-Startseite

American Football
:Kommt die NFL wieder nach München?

Die National Football League trägt in diesem Jahr zwei weitere Spiele in Deutschland aus. Eins der zwei geplanten Teams ist Partner des FC Bayern.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: