Vielleicht ist es ganz gut, dass Amon-Ra St. Brown keinen Touchdown erzielt hat bei der Partie seiner Detroit Lions gegen die Los Angeles Rams – weil das nur zu Debatten danach beim Abendessen geführt hätte. Der deutschstämmige Wide Receiver feiert Erfolgserlebnisse gern kreativ mit Salto oder Koitus-Trockenübungen – sehr zum Missfallen von Vater John, Verkörperung der deutschen Weisheit „Nicht geschimpft ist Lob genug“. Ihm wäre am liebsten, wenn der Filius täte, was die Lions-Legende Barry Sanders getan hatte: Ball dem Schiedsrichter geben, fertig. „Ich mag so was nicht“, sagte der Vater beim Familiendinner nach der Hüftschwung-Jubelei des Sohnes während der vergangenen Saison: „Ich habe gedacht: Oh mein Gott, hör auf damit!“
Die Bühne wäre freilich perfekt gewesen: Sonntag, beste Sendezeit, gleichzeitig keine anderen Partien der Profiliga NFL, die an diesem Wochenende die neue Saison eröffnete. Die Lions gewannen 26:20, die Auffälligen aber waren andere: Laufspieler David Montgomery, der in der Verlängerung den Sieg-Touchdown schaffte. Verteidiger Alex Anzalone, der 13 Rams-Spielzüge stoppte. Und natürlich St. Browns Passempfänger-Kollege Jameson Williams: fünf Fänge für insgesamt 121 Yards Raumgewinn plus Touchdown.
Die Statistik für St. Brown: drei gefangene Pässe für 13 Yards. Man könnte das einen eher ernüchternden Abend nennen – oder es als Beweis dafür sehen, wie wertvoll der 24-Jährige für die Lions in dieser Saison ist und wie grandios er damit umgeht.
Passempfänger sind die Diven in diesem Sport; wunderbar zu sehen in der Netflix-Dokuserie „Receiver“, die in der vergangenen Saison St. Brown, Justin Jefferson (Minnesota Vikings), Davante Adams (Las Vegas Raiders), George Kittle und Deebo Samuel (beide San Francisco 49ers) begleitete. Sie wollen möglichst häufig angespielt werden. Adams war aus Frust über mangelnde Anspiele aktiv an der Entlassung des Trainers beteiligt. Sie wollen glänzen, wortwörtlich – siehe Jeffersons megalomanische Halsketten. Und sie wollen Geld verdienen, und zwar als Respektsbekundung. Das Drama in dieser Sommerpause: der Vertrag für Jefferson, der ihm in vier Spielzeiten 140 Millionen Dollar einbringen wird. Ja’Marr Chase, Star-Receiver der Cincinnati Bengals, absolvierte das erste Spiel dieser Saison deshalb unter Protest – er verhandelt über einen neuen Vertrag, und er will exakt einen Dollar mehr verdienen als Jefferson.
Show und Business sind für St. Brown nicht die Endzone, sondern eher die Katakomben: Man muss halt durch
Das alles ist wichtig zu wissen, denn: St. Brown ist die Antithese zu diesem Receiver-Stereotyp. Die Doku, in der auch die Szene mit dem Jubel-Rüffel des Vaters zu sehen ist, verrät viel darüber, wie St. Brown und seine Familie ticken. Mutter Miriam aus Leverkusen ist exakt das, was man sich unter dem Begriff deutsche Sportlermama vorstellt: fiebert mit, will letztlich aber, dass der Bub gesund, glücklich und ein netter Kerl ist. John ist Amerikaner, kommt in seiner gestrengen Ernsthaftigkeit aber rüber wie ein deutscher Sportlerpapa: hart arbeiten und das Schaumschlagen den anderen überlassen. Warum angeben, wenn man es nicht nötig hat?
Natürlich weiß der Junior, dass Show zum Geschäft gehört. Beim ersten Playoff-Spiel seiner Karriere im Januar etwa trug er Lions-blau gefärbte Haare. Nur: Er wollte damit den Klub ehren, der ihn 2021 als 17. Receiver seines Jahrgangs gewählt hatte (er könnte alle 16 vor ihm Gewählten aufsagen, würde man ihn nachts um drei aufwecken). Das lieben Sportfans freilich, zumal in der Arbeiterstadt Detroit: wenn einer nicht für sich selbst auffällt, sondern aus Liebe zum Verein.
Show und Business sind für St. Brown nicht Endzone, also das Ziel, sondern eher die Katakomben: Muss man halt durch. Auch er unterschrieb einen neuen Vertrag, 120 Millionen Dollar für vier Spielzeiten. Auch das ist irre viel Geld, aber eben fünf Millionen Dollar pro Jahr weniger als das, was Jefferson hat und Chase will. Die Gehaltsobergrenze der NFL ist die strengste der US-Profiligen, weshalb diese fünf Millionen Dollar umso bedeutsamer sind: Die Lions konnten in Mitspieler investieren. Sie verlängerten mit Quarterback Jared Goff sowie den Spielmacher-Beschützern Taylor Decker und Penei Sewell. Goff soll die Lions zur ersten Super-Bowl-Teilnahme der Vereinsgeschichte führen, Decker und Sewell sollen ihm genügend Zeit zum Finden von Anspielstationen verschaffen.
Und St. Brown? Wird als eindeutiger Star oft von zwei, bisweilen gar drei Gegenspielern bewacht. Das führt zu Gelegenheiten für die Mitspieler, wie am Sonntag bei allen gefangenen Pässen von Williams zu sehen war: Viermal führten seine Laufwege in die unmittelbare Nähe von St. Brown, der Verteidiger auf sich gezogen hatte; beim 52-Yard-Touchdown gingen St. Brown und Williams am linken und rechten Spielfeldrand steil, die Regel: Den Ball kriegt der, dem sich der hinterste Verteidiger nicht zur Doppeldeckung zuwendet – in diesem Fall war es Williams. Football ist Rasenschach, und St. Brown war die Dame, auf die sich der Gegner konzentrierte und deshalb Räume für Läufer und Springer lassen musste.
Sie haben viele sehr gute Läufer, Springer und – siehe Decker und Sewell – Bauern bei den Lions. Wer sich auf St. Brown konzentriert, wird von anderen bestraft; bei ausgewogener Bewachung soll, nein, muss die Dame glänzen. 119 Pässe für 1515 Yards Raumgewinn und zehn Touchdowns schaffte er in der vergangenen Saison. Das ist der Maßstab für diese Spielzeit, auch wenn St. Brown glaubhaft versichert, dass ihm individuelle Statistiken nach der Enttäuschung im Januar – die Lions verloren das Halbfinale gegen die 49ers trotz 17-Punkte-Führung – nicht viel bedeuten: „Dieses Gefühl, wie wir damals vom Platz schlichen, will ich nie wieder haben. Es gibt nur ein Ziel, sonst ist die Saison ein Scheitern: Super Bowl!“