NFL:Die Gewinner und Verlierer des Drafts

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Jerry Jeudy (Nummer 4) wurde in der ersten Runde von den Denver Broncos ausgewählt. (Foto: AP)

Beim ersten virtuellen Draft der nordamerikanischen Football-Liga gibt es ungewohnte Einblicke in die Geheimniskrämerei der Klubs. Ein deutscher Kicker vom College erhält seine Chance.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Der Sieger der NFL-Talentbörse, und darüber darf es überhaupt keinen Zweifel geben, ist der Hund von Bill Belichick. Als die New England Patriots am Freitagnachmittag an der Reihe waren, einen Spieler zu wählen, schaltete der TV-Sender ESPN wie verabredet ins Feriendomizil von deren Trainer Belichick - doch der hatte einfach seinen Klee Kai, der auf den Namen Nike hört, auf seinen Stuhl gesetzt. "Er ist ziemlich schnell, aber nicht so schnell wie die Hasen, die er gerne jagt", sagte Belichick später dem Radiosender WWEI - und spottete so nebenbei darüber, dass viele Franchises der US-Football-Liga die jungen Spieler überanalysieren.

Belichick kann sich solche Spielereien leisten, bei seinem ersten Draft als Patriots-Trainer vor 21 Jahren hatte er einen Quarterback verpflichtet, den alle anderen potenziellen Arbeitgeber als Footballprofi für völlig untauglich befunden hatten: Tom Brady. Damals an 199. Stelle gewählt, gilt der 42-Jährige mittlerweile als der beste Spielmacher der Geschichte. Allerdings ist Brady, wie Tight End Rob Gronkowski, gerade erst zu den Tampa Bay Buccaneers gewechselt, und die haben beim Draft nun entsprechend agiert: Sie holten Quarterback-Beschützer Tristan Wirfs in der ersten Runde und später den Running Back Ke'Shawn Vaughn. Es deutet also vieles darauf hin, dass Bruce Arians, der Trainer der Buccaneers, in der kommenden Spielzeit ein Offensivspektakel veranstalten möchte - mit Brady als Dirigent grandioser Einzelkönner.

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Der nächste Gewinner dieses Drafts: die Footballliga NFL, die ihren Fans in Zeiten der Coronavirus-Pandemie ein wenig Abwechslung bot, die über Bilder von Profis beim Zocken von Videospielen hinausreichte. Die Klubs bestimmen beim Draft ja tatsächlich über ihre Zukunft - es ist also sportlich bedeutsam, was da passiert. Die erste Runde am Donnerstag sahen mehr als 15,6 Millionen Amerikaner, eine Steigerung von 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Einen Tag später - insgesamt wurden über drei Tage 255 Spieler in sieben Runden gewählt - waren es immer noch 8,2 Millionen - so viele wie bei manchen TV-Übertragungen nicht.

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"Es hat ganz gut geklappt", sagte NFL-Chef Roger Goodell über den Draft - was in etwa eine Untertreibung ist, so als würde man sagen, dass die Einschaltquoten ganz ordentlich gewesen seien. Die NFL hatte aus der Not eine Tugend gemacht, die Talentbörse erstmals virtuell abgehalten und Kameras in den Häusern der Verantwortlichen installiert. Die Fans bekamen deshalb Einblicke, die sie sonst aufgrund der Geheimniskrämerei der Klubs, die sich während der drei Tage stets gegenseitig mit Tauschangeboten zu übertölpeln versuchen, nie zu sehen gewesen wären.

Im Hintergrund von Las-Vegas-Raiders-Trainer Jon Gruden zum Beispiel: Da stand das "Board". Jene Liste mit den jeweiligen Wunschspielern ist der heilige Gral aller Teams, nun konnten es Zuschauer und Gegner immer wieder sehen. Oder dieses Blatt Papier von Baltimore-Ravens-Manager Eric DeCosta mit seinen Lieblingsspielern für den dritten Tag. Oder auch Houston-Texans-Manager Bill O'Brien, wie er flucht und gestikuliert, weil wohl jemand gegen seinen Willen den Linebacker Jonathan Greenwald gewählt hatte.

Die NFL veranstaltete auch eine Videokonferenz mit Größen wie Brady und Seattle-Seahawks-Spielmacher Russell Wilson, die sich gegenseitig verkohlten und dann gemeinsam über den textilen Offenbarungseid des einstigen Verteidigers Deion Sanders lästerten. Es war unterhaltsam und lehrreich, nebenbei sammelte die NFL mehr als 100 Millionen Dollar an Spenden für Maßnahmen zur Bewältigung der Coronavirus-Pandemie ein. "Das ist fantastisch", sagte Goodell, der den übers Internet zugeschalteten Fans in einem seltenen Anfall von Selbstironie erlaubte, ihn wie immer beim Draft ordentlich auszubuhen.

Rein sportlich lässt sich diese Talentbörse kaum analysieren; ein ungeschriebenes Gesetz im Football besagt, dass eine Bewertung frühestens nach fünf Jahren möglich sei. Interessant ist jedoch, dass sowohl die Green Bay Packers (Jordan Love, erste Runde) als auch die Philadelphia Eagles (Jalen Hurts, zweite Runde) sehr früh Quarterbacks und damit mögliche Nachfolger für ihre Stamm-Spielmacher Aaron Rodgers und Carson Wentz wählten. Oder dass die Patriots nach dem Weggang von Brady auf die Wahl eines jungen Quarterbacks verzichteten. Belichick sagte danach: "Das war nicht geplant, das hat sich so ergeben."

Die Miami Dolphins wiederum, wie die Patriots in der AFC-East-Division beheimatet, hatten in der Vorsaison viele Niederlagen erlitten - auch provoziert durch Tauschgeschäfte, bei denen die Franchise prominente Spieler abgegeben und sich damit zusätzliche Wahlmöglichkeiten gesichert hatte. Nun bauten sie ihre Offensive komplett um: Sie sicherten sich Tua Tagovailoa, den viele Experten trotz der Qualitäten des Erstgewählten (Joe Burrow, Cincinnati Bengals) für den besten Quarterback dieses Jahrgangs halten, und sie verpflichteten gleich danach zwei formidable Beschützer: Austin Jackson und Robert Hunt.

Und auch ein Deutscher kann sich bald zumindest leise Hoffnungen auf die NFL machen: Dominik Eberle, bis 2019 als Kicker am College in Utah aktiv, wurde zwar nicht im Draft gezogen, die Las Vegas Raiders nahmen ihn jetzt aber unter Vertrag. Der Nürnberger kann sich im Training für einen Platz im Kader empfehlen.

Und die Verlierer der Tauschbörse? Vermutlich die Los Angeles Chargers. Sportlich ist ihnen kaum etwas vorzuwerfen, sie holten in der ersten Runde den Spielmacher Justin Herbert und Linebacker Kenneth Murray. Nur: Die NFL blendete am ersten Tag beim Verkünden der Wahl jeweils zwölf Anhänger eines Klubs per Videokonferenz ein, die ekstatisch jubeln sollten. Bei den Chargers blieben zwei Bildschirme leer - was zur nicht ganz unbegründeten Vermutung führt, dass das Unternehmen nun mal nicht über mehr als zehn Anhänger verfügt.

© SZ vom 27.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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