Neymar:Die Tränen des Traumstifters

Die Ausnahmespieler enttäuschen, aber immerhin dürften sie nun noch ein Jahr in Paris bleiben. Bei der Frage zur Zukunft von Trainer Tuchel weicht der Präsident aus.

Von Oliver Meiler

In Paris ist der Alltag zurück, mit seiner ganzen Ladung an Melancholie, auch ein bisschen Jammer ist dabei. Und auf den Champs-Élysées liegen die Reste einer enttäuschten Nacht, ausgebrannte Autos, Scherben eingeworfener Schaufenster. "Bonjour tristesse", titeln gleich beide großen Blätter, L'Équipe und Le Parisien, die der fußballerischen Fortüne von Paris Saint-Germain einen schönen Teil ihres Sommers widmeten. Und was für ein leichter Sommer das doch war für die Pariser, bei aller Schwere der Pandemie, was hatte man sich nicht tragen lassen vom Traum von Geschichte und Glorie. "Bonjour tristesse", ist der Titel eines Romans von Françoise Sagan, der ja auch mit einem verliebten Sommerflirren beginnt.

Nun, es sollte nicht sein. PSG, der Neuling in einem Champions-League-Finale, verspielte seine Premiere. Der große Traumstifter versagte, der angesagte, ja der posaunte Protagonist, er ging mit Tränen von der Bühne. "Untröstlich" sei er gewesen, fand L'Équipe und platzierte ein Foto des weinenden Neymar Júnior groß auf die erste Seite: die Augen rot und angeschwollen. Kindlich, rührend auch, als kreise alles um ihn, die ganze Welt. Der Pokalübergabe mochte er nicht mehr beiwohnen. Und während er so trauerte, gab der Pariser Kingsley Coman, ein "Titi parisien", ein Pariser Junge, wie die Franzosen sagen, fußballerisch aufgewachsen bei PSG, Torschütze aber für den deutschen Gegner, sein Interview: "Ich spüre ein großes Glück in mir, und ein bisschen Traurigkeit für Paris", sagte er. Der Fallrückzieher der Tristesse.

"Wenn man von einem Ausnahmespieler allein lebt, dann fällt man eben auch mit ihm hin, wenn er hinfällt", schreibt Libération. Die "deutsche Organisation" habe Neymar isoliert, bereits nach einer Stunde habe der Brasilianer entnervt kapituliert, "weil es ihm nicht gelang, das übliche Kaninchen aus dem Hut zu zaubern". Er lief zwar eine ganze Menge, und das rechnet man ihm immer hoch an, als wäre es nicht selbstverständlich. Doch von großen Namen werden in großen Momenten nun mal große Leistungen erwartet. Neymar sei plötzlich menschlich gewesen, "sogar gewöhnlich", schreibt Le Parisien. Und das war nun wirklich nicht so gedacht.

Das ganze Sturmtrio enttäuschte, "les trois fantastiques". Kylian Mbappé, auch er ein "Titi parisien", schien nach seiner schnellen Genesung von einer Sprunggelenkverletzung dann doch etwas knapp bei Form zu sein. Und Ángel Di María? Der Linksfuß hatte den besten Ball auf seinem rechten Fuß und beförderte ihn auf die leere Tribüne hinter dem Tor, mit Rücklage.

L'Équipe schreibt, Bayern habe alles besser gemacht, und doch leide man jetzt wieder an dieser altbekannten Qual, im besten Moment nicht das Beste geleistet zu haben. Das Spiel - verzockt, verpasst. "Lissabon hätte der Ort der Apotheose werden können." Der Krönung also, der Verklärung der Halbgötter in kurzen Hosen. "Von Weitem betrachtet, erscheint der Unterschied zwischen den beiden Teams klein", kommentiert die Sportzeitung: "Schaut man aber genauer hin, ist der Unterschied ziemlich groß." Im Team Bayerns gebe es keine größere Schwachstelle, und an einigen zentralen Stellen seien sie besser besetzt. Im Tor natürlich, Manuel Neuer wird in Frankreich nun wieder als weltbester Torwart gewertet, Note 9 von 10 bei L'Équipe. "Impérial." Den Unterschied im Spiel habe aber Thiago Alcántara gemacht, die Drehscheibe im Mittelfeld, der "Rhythmusgeber", seine Übersicht sei "wunderbar". "PSG fehlte ein solcher Spieler."

Aus Pariser Sicht waren Neymars Tränen natürlich das beste Sinnbild. Es wäre wohl tatsächlich das richtige Jahr gewesen, "la bonne année". Wer weiß, wann ein Sommer es wieder so gut meint mit dem jungen Verein, der mit katarischer Geopolitik und katarischem Geld aufgepumpt ist. Seit neun Jahren schon. Das letzte Wegstück in dieses ersehnte Endspiel war, mit Verlaub, nicht so dornig, wie man das in der europäischen Königsklasse für gewöhnlich kennt: Borussia Dortmund, Atalanta Bergamo, RB Leipzig - ein Spaziergang, und er gelang gar nicht so leicht.

Gut eineinhalb Milliarden Euro hat der Emir von Katar schon ins erlesene Personal investiert

Auch der Modus war dem Team hold: ein Finalturnier im K.-o.-System, wo doch PSG in jüngerer Vergangenheit immer daran gescheitert war, dass es bei Hin- und Rückspielen nur eine Begegnung auf Niveau schaffte - und dann zerbrach, manchmal spektakulär. Und dann ging man die Schlussrunde in Lissabon so frisch an, körperlich ausgeruht, wie keiner der Rivalen, nachdem die Franzosen ja wegen Corona die Meisterschaft abgebrochen hatten. Alles passte, in der langen Pause fügte sich der Haufen Solisten auch noch erstmals zum Kollektiv zusammen, zu einer Bande von Freunden. La bonne année!

"Es ist traurig", sagte Nasser al-Khelaïfi, der aus Katar kommende Präsident von PSG, "aber das ist Fußball, man muss es akzeptieren." In diesem Satz, in dieser Akzeptanz des Unwägbaren jenseits des Kapitals, liegt natürlich mehr als eine Floskel. Eineinhalb Milliarden Euro hat sein Chef und Freund, der Emir von Katar, in das Personal für den Gewinn des Henkelpokals investiert: Die vielen nationalen Meisterschaften und Pokalsiege sind höchstens Zugabe, Alltag eben. Al-Khelaïfi rief den Fans dann noch zu: "Ich verspreche euch, wir werden eines Tages zurückkommen mit dem Pokal." Eines Tages also, die Zeit der genau befristeten Verheißungen ist passé.

Eine kleine Genugtuung liegt dann aber doch in dieser Niederlage, so jedenfalls denkt man sich das in Paris. Neymar und Mbappé werden nun wohl in der Stadt bleiben. Hätte PSG in Lissabon gewonnen, wäre ihre Mission für Katar und den Klub erfüllt gewesen. Beide sehnen sich nach prominenteren Bühnen als jene, die sie in der Ligue 1 bespielen. Ihre Verträge laufen im Sommer 2022 aus, auf eine Erfüllung würde niemand wetten. Ein Jahr aber werden sie wahrscheinlich noch bleiben, um es noch mal zu versuchen.

Die Mannschaft dürfte nun ein bisschen umgebaut werden. Gesucht wird zum Beispiel eine Alternative für Thilo Kehrer, den rechten Außenverteidiger und deutschen Nationalspieler, von dem man nicht restlos überzeugt ist. Kapitän und Abwehrchef Thiago Silva verlässt Paris nach acht Jahren und wird in Rolle und Position vom Landsmann Marquinhos ersetzt. Im Mittelfeld wäre jemand von Zuschnitt und Klasse Thiago Alcántaras gewünscht, in der Zwischenzeit setzt man weiter auf den Italiener Marco Verratti. Was mit Eric Maxim Choupo-Moting, dem Helden des Viertelfinales, werden soll, ist noch immer nicht klar. Sein Vertrag ist abgelaufen.

Und Thomas Tuchel? Reichen Katar vier Titel in einer Saison? Als Nasser al-Khelaïfi nach dem deutschen Trainer gefragt wurde, dessen Vertrag noch ein Jahr gilt, wich der Emissär des Emirs aus. "Vier Trophäen, das ist nicht schlecht", sagte er, "aber wir sind traurig und enttäuscht." Eine Jobversicherung klingt anders.

In Paris schlug die Euphorie der Vortage schnell um. Auf den Champs-Élysées, dem ewigen Schauplatz von Paraden der Freude und von großen politischen Unmutsbekundungen, prügelten sich Ultras und Chaoten mit der Polizei. 151 wurden verhaftet, unter ihnen viele Minderjährige. Auch rund um den Parc des Princes, wo der Verein 5000 Anhänger für ein Public Viewing im großen Rund versammelt hatte, gab es nach dem Spielende wüste Ausschreitungen. Auf Fernsehbildern sieht man, wie Fans zu Fuß einen Polizeibus verfolgen, mit Steinen nach ihm werfen. Die Tristesse in ihrem nicht so melancholischen Gewand. Paris hatte früher schon oft Probleme mit gewaltbereiten Hooligans.

Ein Kameraschwenk zum alten Hafen von Marseille zeigte das andere Frankreich, das feiernde. Die großen französischen Medien mochten vor dem Finale immer wieder versucht haben, das Schicksal des Pariser Klubs irgendwie national zu überhöhen, es gewissermaßen patriotisch aufzuladen.

Doch außerhalb von Paris ist Paris nicht beliebt, um es mit einem Euphemismus zu sagen: die Blasiertheit der Hauptstädter, das viele Geld der Katarer, der ganze Habitus der Stars - das geht vielen Franzosen auf die Nerven, am meisten den Marseillais. In Marseille, der zweitgrößten Stadt im Land, sieht man sich als Antithese zu Paris, als Ausbund von Passion und Leben, fußballerisch und auch sonst. Das brachte Olympique Marseille zuletzt zwar keine großen sportlichen Erfolge ein, aber man hat ja die Vergangenheit.

"À jamais les premiers", für immer die Ersten - so heißt der Slogan, mit dem sie im Süden den Rest des Landes und Paris im Besonderen immer wieder daran erinnern, dass OM der erste französische Gewinner der Champions League war. 1993, gegen den AC Mailand. Und der bisher einzige dazu. Da das nun mindestens für ein weiteres Jahr lang auch so bleiben wird, feierten sie am Vieux-Port das Tor Bayerns und später den Schlusspfiff mit der Ausgelassenheit ganz großer Tage, ohne Abstand, dafür mit roten Rauchpetarden. Manche trugen das Trikot des FC Bayern oder wenigstens einen Schal. Von wegen Patriotismus.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: