Brasilien bei der WM:Neymar wankt unter der Last eines ganzen Landes

Lesezeit: 4 min

Neymar weinte minutenlang. (Foto: Michael Sohn/AP)
  • Nach seinem Treffer zum 2:0-Endstand gegen Costa Rica fällt Brasiliens Neymar dreifach auf.
  • Er beleidigt seinen Kapitän, macht eine Kopf-ab-Geste, die offenbar seinen Kritikern bestimmt ist, und bricht am Ende in Tränen aus.
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Von Sven Haist, Sankt Petersburg

Die Tränen liefen Neymar übers Gesicht. Minutenlang kniete der teuerste Fußballspieler der Welt an der Mittellinie und weinte im brasilianischen Nationaltrikot einfach unkontrolliert vor sich hin. So wie er das in dieser Saison schon im November gemacht hatte, als er sich bei seinem Klub Paris Saint-Germain auf einer Pressekonferenz über Unwahrheiten beklagte. Und im Februar, als er sich in einer Ligapartie am rechten Knöchel einen Haarriss im Mittelfußknochen zugezogen hatte, der ihn bis kurz vor der Weltmeisterschaft in Russland kein Spiel mehr hatte bestreiten lassen. Auch nach seinem Bruch des Lendenwirbels im Viertelfinale der Heim-WM 2014 konnte Neymar die Tränen nicht zurückhalten. Aber nicht alle seine Tränen waren gleich.

Nach den jeweiligen Verletzungen bekam Neymar, 26, feuchte Augen aus dem Verlust, den er zu verkraften hatte: Die Hoffnung sich 2014 mit Brasilien zu Hause zum Weltmeister zu machen, löste sich ebenso plötzlich auf wie vor ein paar Monaten der Wunsch, mit Paris die Champions League zu gewinnen. Im Spätherbst offenbarte sein Gefühlausbruch, wie nahe ihm die Berichterstattung über seine Person geht, ein Zerwürfnis war ihm in Paris nachgesagt worden mit Angriffspartner Edinson Cavani. Am Freitag in Sankt Petersburg weinte Neymar nach Abpfiff nun Tränen der Erlösung. Die Last, die ihm seine Landsleute aufgetragen haben und die er für das brasilianische Nationalteam um Trainer Tite schultern muss, konnte er nicht länger aushalten. "In der Seleção zu spielen, macht ihn stolz, er ist sehr emotional und ich respektiere die verschiedenen Charaktere. Er hat großen Druck und den Mut, das auch zu zeigen", sagte Tite.

Mit zwei Treffern in der Nachspielzeit durch Philippe Coutinho und Neymar kam Brasilien gerade noch mit einem 2:0 über Costa Rica davon. Ein Unentschieden oder gar eine Niederlage hätten das Weiterkommen im Turnier für die Seleção nach dem 1:1 zum Auftakt im Duell mit der Schweiz infrage gestellt. Im finalen Gruppenspiel gegen Serbien am Mittwoch reicht Brasilien ein Unentschieden, um das dritte Vorrundenaus bei einer WM nach 1930 (Uruguay) und 1960 (England) abzuwenden. Auf sinen Kanälen im Internet schrieb Neymar: "Nicht alle wissen, was ich durchgemacht habe, um es hierhin zu schaffen. Sprechen können sogar Papageien, aber machen können nur die wenigsten. Die Tränen kamen aus Freude, Ehrgeiz, Kampfgeist und wegen der Lust am Gewinnen. In meinem Leben waren die Dinge nie einfach und sie waren es auch jetzt nicht. Der Traum geht weiter. Oder besser nicht der Traum, sondern das Ziel!!!"

In der Schlussphase setzt die Verzweiflung bei Neymar ein

Anderthalb Stunden spielte sich Brasilien die Füße wund beim Versuch, eine Lücke in der Defensivblockade der Costa Ricaner zu finden. Mit jedem Pass verringerte sich jedoch das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, bis in der Schlussphase innerhalb des Teams die Verzweiflung einsetzte. Repräsentiert durch Neymar, der unbedingt einen Elfmeter für Brasilien herausholen wollte und vom niederländischen Schiedsrichter Björn Kuipers auch einen zugesprochen bekam. Den Ball hatte sich der Mann mit der Nummer 10 bereits zurechtgelegt, als die Entscheidung nach Ansicht der Videobilder richtigerweise annulliert wurde. Im Zweikampf war Kuipers auf Neymars Theatralik hereingefallen, beeinflusst vermutlich durch die fortlaufenden Proteste der Brasilianer im Spiel, die sich bei den teils rüden Attacken ihrer Gegenspieler nicht ausreichend geschützt fühlten. Aus Wut schmetterte Neymar kurz nach der Elfmeterszene den Ball auf den Boden - und bekam eine Verwarnung. "Ich habe vor dem Spiel extra noch gesagt, dass wir uns nicht so oft beschweren, sondern konzentriert bleiben sollen", sagte Tite.

Ein Strafstoß schien die einzig verbliebene Möglichkeit zu sein für die Seleção, ein Tor zu erzielen. Selbst die besten Chancen ließen die Brasilianer im Spiel ungenutzt, aus fünf Metern schoss Neymar übers Tor. Auf der Tribüne konnten die Fans das sportliche Leid ihrer Mannschaft kaum ertragen, zu allem Überfluss erlitt Neymars Schwester Rafaella Beckran wohl einen Schwächeanfall, mehrere Sanitäter mussten das in Brasilien bekannte Model medizinisch versorgen. Die Dramaturgie der Begegnung spitzte sich derart zu, dass die Brasilianer nach dem Führungstor einen Jubel aufführten, der dem Gewinn der Weltmeisterschaft glich. Kopfüber fiel Trainer Tite auf den Boden. "Ich bin vor Freude losgelaufen, dann bin ich gestolpert", sagte er, "zurück musste ich hinken."

Die Selbstbefreiung führte dazu, dass Brasilien in den wenigen Restminuten wieder wie Brasilien spielte: mit Freude, Eleganz und Magie. An der Eckfahne lupfte Neymar den Ball mit der Hacke über sich und seinen Gegenspieler hinweg, nach 96:49 Minuten schoss er den Ball zum spätesten Treffer bei einer WM seit 1962 in einer Selbstverständlichkeit ins Tor, als hätte es die vertanen Gelegenheiten zuvor nicht gegeben. Mit seinem 56. Treffer im Trikot der Brasilianer hat sich Neymar an Romario vorbei hinter Ronaldo (62) und Pelé (77) auf den dritten Rang in der ewigen Torschützenliste seines Landes vorgearbeitet.

"Er nähert sich seinem wahren Leistungsvermögen an"

Das Glücksgefühl könnte ihn und Brasilien jetzt durch die Weltmeisterschaft tragen. Seinen ersten Treffer im Turnier überschattete jedoch eine Geste, in der er sich symbolisch mit der rechten Hand den Hals durchschneiden wollte. Das sollte heißen, dass seine Kritiker endlich mal Ruhe geben und ihn einfach spielen lassen sollen. Auch für seine Mitspieler hatte er mitunter eine deutliche Botschaft. "Heute hat er mich sehr traurig gemacht", berichtete Brasiliens Kapitän Thiago Silva, "als ich den Ball dem Gegner zurückspielte, hat er mich sehr beschimpft." Der 33-Jährige, der nach einer Behandlungspause das Fair Play beachtet hatte, nahm Neymar jedoch in Schutz. "Ich denke, er hatte recht, denn Costa Rica hat sehr auf Zeit gespielt", sagte der Anführer der Seleção.

In der Sehnsucht, für Brasilien die Weltmeisterschaft mehr oder weniger ohne Mitspieler zu gewinnen, zog Neymar auf dem Platz meist alleine los, in der ersten Halbzeit leistete er sich 17 Ballverluste mit seinen Dribblings. "Er ist dreieinhalb Monate verletzt ausgefallen. Er ist ein Mensch, er braucht Zeit", sagte Tite, "aber er nähert sich seinem wahren Leistungsvermögen an. Und er wird es hier sicher noch erreichen."

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Als einer der letzten verließ Neymar zwei Stunden nach dem Spiel den Kabinentrakt. Im Pulk seiner Mitspieler suchte er Schutz auf dem Weg durch die Interviewzone. Während seine Kollegen immer mal wieder einen Stopp bei den Medienvertretern einlegten, hatte sich Neymar seine Kappe ins Gesicht gezogen und Kopfhörerstöpsel ins Ohr gesteckt. Er wollte nach diesem Spiel nichts mehr sehen und auch nichts mehr hören.

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