Süddeutsche Zeitung

Newcastle gegen Tottenham:Eruptionen in der mächtigen Stadt

Beim ersten Auftritt der neuen saudischen Eigentümer von Newcastle United kommt es zu skurrilen Szenen - der Kollaps eines Fans geht glimpflich aus, im Stadion treffen Hyperkapitalismus und Tradition aufeinander.

Von Sven Haist

Geld allein, das wurde am Sonntagabend im St. James' Park von Newcastle klar, dürfte den Fußball kaum am Leben erhalten. Denn was wirklich zählt im Leben, ist unerschwinglich, selbst für die Reichsten der Reichen. Manchmal genügt nicht einmal ein astronomisches Vermögen, so wie jene geschätzte halbe Billion Euro des saudi-arabischen Public Investment Fund (PFI). Der hatte sich kürzlich unter Vorsitz des Kronprinzen Mohammed bin Salman mehrheitlich den Premier-League-Klub Newcastle United ins Geschäftsportfolio geholt. Aber dann passierte etwas, bei dem Finanzen nebensächlich werden.

Kurz vor der Halbzeitpause des ersten Ligaspiels unter neuer Regentschaft gegen Tottenham Hotspur (2:3) kollabierte in Newcastle ein Besucher auf der Tribüne. Geistesgegenwärtig lösten Fans den Alarm aus und führten Erste-Hilfe-Maßnahmen durch, bis medizinisches Fachpersonal mit einem Defibrillator die Notfallbehandlung übernahm.

Ein Fan bricht auf der Tribüne zusammen und kann gerettet werden

Ähnlich akkurat reagierten zwei Tottenham-Profis auf dem Platz: Sergio Reguilón meldete den Vorfall bei Schiedsrichter Andre Marriner (der das Spiel sofort unterbrach) und Eric Dier informierte den Betreuerstab am Seitenrand, woraufhin Newcastles Arzt Paul Catterson weitere Unterstützung leistete. Der gezielte Einsatz aller Beteiligten hat dem Fan wohl das Leben gerettet. In einer Stellungnahme hieß es, der Zuschauer sei "stabil und ansprechbar". Nach einer halben Stunde wurde die Partie fortgesetzt - aber die Einstandsfeier der Eigentümer war damit vorüber.

Der Kampf des Mannes um sein Leben zog dem verstörenden Hype um den jetzt offenkundig vermögendsten Verein Englands kurzerhand den Stecker. In der Ehrenloge offenbarten sich betretene Mienen beim neuen Klubvorsitzenden Yasir Al-Rumayyan, 51, der als Statthalter des PFI per Privatjet aus Riad nach Newcastle gereist war. Neben ihm kauerten die Direktoren Amanda Staveley, 48, und Jamie Reuben, 34, die über ihre Investmentfirmen jeweils zehn Prozent der Klubanteile halten.

Bereits frühzeitig war die Führungsriege im Stadion erschienen. Einheitlich gekleidet in Schwarz-Weiß, den Farben des Traditionsbetriebs, die auf seinen Spitznamen "Elstern" zurückgehen. Die Fans rollten vor Anpfiff dazu ein Plakat mit den lokalen Sehenswürdigkeiten aus und einem Spruchband, das den local hero Jimmy Nail (einen Musiker) zitierte, wonach Newcastle upon Tyne eine mächtige Stadt sei, eine "mighty town".

Aus Sicht der Fangruppen sollte die Choreografie den Aufbruch symbolisieren. Ein Lebenszeichen, nach anderthalb Jahrzehnten unter der Führung des umstrittenen Mike Ashley (Gründer des Einzelhandelsriesen Sports Direct), als der Klub im Niemandsland des Fußballs herumdümpelte.

Große Helden grüßen aus der Vergangenheit von Newcastle

Der Stadionsprecher bat für Al-Rumayyan und seine Gefolgsleute um einen "warmen Geordie-Willkommensgruß", so heißen auf der Insel die Bewohner rund um Newcastle aufgrund ihres Dialekts. Und ja, fast ausnahmslos drehten sich die mehr als 50 000 Zuschauer im ausverkauften Stadion zum neuen Heilsbringer und würdigten ihn mit Ovationen, als handele es sich um eines ihrer Fußballidole. Bobby Robson, Kevin Keegan und Alan Shearer - Uniteds Geschichte prägen viele Größen des britischen Fußballs. Sie verkörpern Aufopferung, Stolz und Demut. Al-Rumayyan ist dagegen eher als "Verbündeter einer brutalen Autokratie" einzuordnen, wie der Guardian schrieb.

Das saudi-arabische Engagement in Newcastle folgt dem Vorbild der regionalen Nachbarn am Persischen Golf. Ein Ableger des katarischen Staatsfonds hatte sich vor zehn Jahren bereits Paris Saint-Germain gesichert, die Herrscherfamilie des Emirats Abu Dhabi war davor wiederum bei Manchester City eingestiegen. Jeweils mit klarem Ziel: Um das Portfolio auszuweiten, die Sichtbarkeit in der Welt zu vergrößern - und sich vor allem für die Untaten gegenüber der heimischen Bevölkerung reinzuwaschen.

Wie der euphorische Empfang von Al-Rumayyan nun bestätigte, hat sich der monarchische Wüstenstaat gleichermaßen die Vorzüge des Fußballs erkauft: Leidenschaft, Zusammengehörigkeit und eine bisweilen ekstatische Atmosphäre. Im sportbegeisterten Newcastle potenzieren sich gerade die Gefühlswallungen. Anderswo gibt es Kritik, die New York Times urteilte etwa, dass Newcastle genauso ausgenutzt werde wie ManCity und PSG und der Fußball als Ganzes. Daran seien alle mitschuldig, weil jeder Teil der Kultur ist, in der nur noch ein einziger Traum bestehe: das meiste Geld zu haben.

Was man den Newcastle-Fans vorwerfen muss

In dieser Hinsicht ist den Newcastle-Fans kaum der Vorwurf zu machen, dass sie ihrem Klub die Treue halten. Wohl aber für die Torheit, indirekt einem Regime - augenscheinlich verantwortlich für den Auftragsmord am Journalisten Jamal Khashoggi - zu huldigen. Indem sich zahlreiche Anhänger als Saudis mit Kopftuch und Gewand verkleideten, torpedierten sie jegliche Protestaktionen vor dem Stadion. Verstärkt wurden die Eruptionen schließlich durch den grenzenlos bejubelten Führungstreffer von Callum Wilson nach 107 Sekunden.

Zur Besinnung schien Newcastle erst durch den dramatischen Zwischenfall vor der Halbzeitpause zu kommen - und die am Ende entblößende sportliche Leistung. Tottenhams Sieg hätte trotz Treffern von Tanguy Ndombele (17.), Harry Kane (22.) und Heung-min Son (45.+3) viel höher ausfällen können, so blieb am Ende ein knappes Resultat, das vieles kaschierte. United hängt nach acht Spieltagen weiter sieglos auf dem vorletzten Tabellenplatz fest, es gibt also viel zu tun.

Als erste Reaktion des Vereins auf die Abstiegsgefahr ist nun die Abberufung des Trainerveteranen Steve Bruce (1000 Spiele) zu erwarten. Er passt mit seiner Strategie ebenso wenig zu den kürzlich formulierten Titelambitionen des Klubs wie der Großteil des Spielerkaders. Die Times nannte bereits drei Ersatzkandidaten: Roberto Martinez, Unai Emery und Steven Gerrard. Doch vor dem großen Geldregen aus Saudi-Arabien gab es an diesem Wochenende zumindest noch einmal einen kleinen Wink: Fußball und Erfolge sind das eine, aber das Leben eines Fans wiegt doch viel schwerer.

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