Süddeutsche Zeitung

Medizin-Ethikerin zum Geschlechtstest im Sport:"Das IOC missachtet den Schutz der Sportlerinnen"

Claudia Wiesemann, Expertin für ethische Fragen von Intersexualität im Sport, über neue "Zwangs-Tests", die Folgen für Betroffene und warum der Sport sehr naiv ist.

Interview: Thomas Hummel

Fast zwei Jahre nach dem "Fall Semenya" hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) beschlossen, bei Frauen wieder Geschlechtstests einzuführen. Dieser basiert auf dem Phänomen des Hyperandrogenismus, bei dem es sich um eine exzessive Vermehrung von Testosteron im weiblichen Körper handelt. Eine Athletin soll künftig nur dann in der Frauenklasse starten dürfen, wenn ihr Level an Androgenen unter dem der Männer oder in einem Bereich liegt, aus dem sie keinen Wettkampf-Vorteil ziehen kann. Der Internationale Leichtathletik-Verband IAAF übernimmt die Regel als erster Weltverband am 1. Mai. Claudia Wiesemann, Direktorin der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen und Expertin für ethische Fragen von Intersexualität im Sport über die angebliche Freiwilligkeit, Auswirkungen der Tests bei jungen Sportlerinnen und wie der Sport aus dem Dilemma kommen könnte.

sueddeutsche.de: Als Caster Semenya im August 2009 bei der Leichtathletik-WM in Berlin Gold gewann und unmittelbar im Anschluss ihr Geschlecht in Zweifel gezogen wurde, hieß es: Der Fall werde binnen Tagen geklärt. Es dauerte dann mehr als ein Jahr und bis heute weiß niemand, was nun eigentlich die Diagnose ist.

Claudia Wiesemann: Das halte ich auch für absolut richtig. Die Privatsphäre der Läuferin muss geschützt werden. Wenn Sie zum Arzt gehen, würden Sie auch erwarten, dass der Doktor das Ergebnis Ihrer Prostata-Untersuchung nicht der Bild-Zeitung mitteilt. Wieso soll das bei Sportlern anders sein? Ein so gravierendes öffentliches Interesse gibt es nicht.

sueddeutsche.de: Was halten Sie von den neuen IOC-Regeln?

Wiesemann: Zwei Dinge sind besser als vorher. Erstens wird formell nicht mehr der Anspruch erhoben, das Geschlecht eines Menschen bestimmen zu wollen. Das IOC reagiert damit auf wissenschaftliche Erkenntnisse von vor 40 Jahren, dass in einem Übergangsbereich das Geschlecht nicht so eindeutig zu klären ist, wie sich das mancher wünschte. Man spricht in diesem Fall von Intersexualität. Mittlerweile erheben sie nur noch den Anspruch, Kriterien festzulegen, wer starten darf. Das hilft den Verbänden. Zweitens stellen IOC und IAAF weltweit Fachzentren für die Diagnostik zur Verfügung. Es handelt sich hier ja um anspruchsvolle medizinische Diagnostik, es starten aber auch Sportlerinnen aus sehr armen Ländern, die medizinisch unzureichend ausgestattetet sind.

sueddeutsche.de: Gibt es auch kritische Punkte?

Wiesemann: Vor allem beim Umgang mit Sportlerinnen, die eventuell intersexuell sind, sehe ich große Defizite. Es handelt sich hier um sehr persönliche Daten und Befunde. Das Geschlecht ist für viele Menschen identitätsbestimmend. Wenn es in Zweifel gezogen wird, kann ein Mensch in massive Identitätsprobleme geraten. Das Umfeld kann ihn stigmatisieren. Für dieses Problem haben die Verbände nicht vorgesorgt. Die Ergebnisse sollen zwar vertraulich sein, aber innerhalb des Sportverbands, gegenüber dem Trainer, den nahen Angehörigen wird das nicht möglich sein.

sueddeutsche.de: In der Praxis könnte es so aussehen: Ein 17-jähriges Mädchen gewinnt die Junioren-WM, dann darf sie womöglich plötzlich nicht mehr starten. Die Öffentlichkeit wird darauf aufmerksam.

Wiesemann: Auch die Sportlerin hat Rechte. Sie ist in dieser Situation Patientin. Sie muss vorher genau über die Folgen der medizinischen Untersuchung informiert werden, und die Tests müssen freiwillig sein. Das ist in Deutschland zum Beispiel ohnehin für alle Gentests gesetzlich so festgelegt worden. Wie aber im Rahmen des Sports echte Freiwilligkeit erreicht werden soll, darüber schweigen die Verbände.

sueddeutsche.de: Wer sich nicht testen lässt, der darf nicht starten.

Wiesemann: So ist es. Hier werden Sportlerinnen - unter Umständen noch Jugendliche - faktisch gezwungen, die Tests durchführen zu lassen. Die neue Regelung des IOC missachtet den Schutz dieser Personen. Wir wissen, dass die Ergebnisse genetischer Diagnostik dramatische Auswirkungen haben können. Da kann sich der Sport nicht hinstellen und sagen: Uns kümmert das nicht.

sueddeutsche.de: Die Verbände wollen, dass weiterhin Wettbewerbe bei Frauen und Männern ausgetragen werden.

Wiesemann: Das halte ich auch für richtig.

sueddeutsche.de: Will man das beibehalten, und sollen bei Frauen gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen garantiert sein, dann steckt der Sport in einem Dilemma.

Wiesemann: Zum einen: Das Phänomen Intersexualität ist nicht sehr häufig. Zum anderen: Jede Sportlerin hat einige genetische Vorteile, die sie größer, kräftiger, schneller werden lässt als andere. Warum ausgerechnet diesen einen Aspekt so betonen und nur hier Unfairness anprangern?

sueddeutsche.de: Sie würden dafür plädieren, dass Intersexuelle bei Frauen starten dürfen?

Wiesemann: Ich würde dafür plädieren, dass jeder Mensch, der im sozialen Geschlecht Frau aufgewachsen ist und legal als Frau gilt, auch bei Frauen starten darf. Man kann Sportlerinnen nur dann effektiv vor Trauma und Stigmatisierung schützen, wenn man die Zwangs-Tests aufgibt.

sueddeutsche.de: Im Fall Caster Semenya hieß es während der WM in Berlin: Sie sieht aus wie ein Mann. Viele Konkurrentinnen haben auf das Äußerliche von Semenya reagiert. Ist die Diskussion deshalb nicht ohnehin unvermeidbar?

Wiesemann: Diese Diskussion kommt nur auf, weil der Sport für sich in Anspruch nimmt, auch in Fällen von Intersexualität biologisch eindeutig feststellen zu können, wer Frau und wer Mann ist. Der Sport sollte diese Vorstellung aufgeben. Viele Athletinnen haben männliche Gesichtszüge; ein zierliches Mädchen wird keine Karriere im Gewichtheben machen. Frausein beinhaltet ein großes Spektrum von körperlichen Merkmalen. Es geht darum, dass mit diesen Tests ein grundsätzliches Urteil über einen Menschen abgegeben wird: Du bist keine richtige Frau. Und das geht bei den Betroffenen an die Wurzel ihrer Existenz.

sueddeutsche.de: Ist der Sport in diesem Bereich naiv?

Wiesemann: Da ist der Sport noch sehr naiv. Vielleicht verständlicherweise. Weder Sportfunktionäre noch Sportlerinnen sind auf das Thema Intersexualität ausreichend vorbereitet.

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