Süddeutsche Zeitung

Doku über die "Hand Gottes":Maradona unser

Ein Dokumentarfilm erzählt vom wilden Leben Diego Maradonas, der während seiner Karriere nirgends so verehrt wurde wie in Neapel. Eine Reise in eine Stadt, deren Liebe bis heute nicht erkaltet ist.

Von Oliver Meiler, Neapel

Niemand darf mehr ins Paradies, dafür haben sie gesorgt. Das blaue Tor ist verriegelt. Davor steht ein kleines Auto, der rechte Rückspiegel hängt herunter. Ein alter Mann im Trägerhemd schleppt Werkzeuge in seinen Garten auf der anderen Straßenseite, er hält dort Hühner, Hunde, ein Zwergpony. "Die Leute haben nur noch Abfall abgeladen da drinnen, da haben wir uns in der Nachbarschaft entschieden, das Tor zu verriegeln."

Im Centro Paradiso in Neapel, einem verlassenen Fußballstadion im Stadtteil Soccavo gleich unter der Ringstraße, zwischen Berg und Meer, überwachsen von wilder, von der Sonne verbrannter Flora, hat Diego Armando Maradona trainiert. Damals, in den Achtzigern, als Napoli plötzlich groß war, die Stadt und der Verein. Auf dem Dach der Welt saßen sie, wie die Italiener so schön sagen. Beneidet von allen. Am blauen Tor hängen Zeitungsausschnitte und Auszüge aus alten Alben von Panini. Maradona, überall. Es sind Farbkopien, nur ein bisschen vergilbt. Sie werden nach jedem Regen frisch geklebt. "Finalmente sì", steht auf der Frontseite des Corriere dello Sport. Endlich ja.

An diese wilden Jahre erinnert nun auch der Dokumentarfilm "Diego Maradona", der am 5. September ins Kino kommt. Aus mehr als 500 Stunden Material hat der britische Regisseur Asif Kapadia, der bereits preisgekrönte Dokumentationen über die Formel-1-Legende Ayrton Senna und die Sängerin Amy Winehouse drehte, ein Porträt des Fußballspielers komponiert. Die vielleicht beste Zeit seines Lebens, das zeigt der Film, verbrachte Maradona in Neapel, stets begleitet von hingebungsvollen Anhängern und einer Presse, die ihn vergötterte. Diego ließ Träume wahr werden, manchmal waren es auch Albträume, denn die Liebe seiner Fans hatte etwas Erdrückendes. Fußballmessias und gefallener Engel, Spieler, Trickser, Charmeur und Zweifler - all diese Facetten Maradonas zeigt dieses Filmporträt in schonungsloser Weise. Heute ist Maradona wieder mal Trainer. Soeben heuerte beim argentinischen Erstligisten Gimnasia y Esgrima an und sein Heimatland steht ein wenig Kopf.

Drogenprobleme, Mafia, Ärger mit dem Finanzamt? Seine Fans glaubten es nicht

In Neapel erinnert man sich an die genauen Uhrzeiten aller Ereignisse aus jenem Sommer 1984, als Maradona über die Stadt kam. An die Landung in Rom, mit Alitalia aus Barcelona. An die Fahrt nach Neapel, den Abstecher nach Capri. Und natürlich an die Vorstellung im San Paolo. 5. Juli, 18.30 Uhr. Das Stadion war voll, 70 000 waren gekommen. Ein Platz in der Kurve kostete tausend Lire, den Preis von zwei Kaffee. Maradona trug den Trainingsanzug mit langer Hose, mitten im Sommer, jonglierte ein bisschen mit dem Ball und drosch ihn dann in den Himmel Neapels. Der weltbeste Fußballer des Moments, er hatte sich tatsächlich entschieden, nach Neapel zu kommen. Mit 24 Jahren, in der Blüte seiner Karriere. Nicht nach Mailand, nicht nach Turin, auch nicht nach Rom. Nach Neapel.

44 Tage hatte das Zerren gedauert, hin und her, bis sich der FC Barcelona überzeugen ließ, dass die Neapolitaner das Geld zusammenhatten für den Transfer. Das Drama mit dem glücklichen Ende, man erlebte es wie eine Revanche über den reichen, blasierten Norden des Landes, wie eine Befreiung von allen historisch gewachsenen Ungerechtigkeiten und Klischees, die auf dem Süden lasten.

In diesem Ja lag auch das Versprechen, dass der Glanz des Größten sich auf alle legen würde, in jeder Hinsicht, und das sollte auch das Management des Sportlers bald erfahren. Geplant hatte es, die Euphorie um Maradona mit Fanartikeln weiter zu nähren und zu bedienen. Die Maradona Productions war schon gegründet, die Firma hatte ein teures Büro mitten in der Stadt gemietet.

Doch bevor Maradona überhaupt in Neapel ankam, war die Stadt schon geflutet mit Ware. Inoffizielle Leibchen mit der "10" auf dem Rücken, Bücher, Puppen, Socken, sogar Perücken, alles schon da. Nach vierzehn Tagen löste die Maradona Productions ihren Mietvertrag wieder auf, es hatte keinen Sinn. Maradona sagte einmal, es sei nur richtig, dass die Menschen etwas davon hätten. Die Marktstände sind bis heute voll mit billigen Souvenirs vom "Goldjungen".

"Arm, aber genial, so sehen sich die Neapolitaner auch."

Maradona wohnte nicht weit vom Centro Paradiso, nur zehn Minuten mit dem Auto, an einem steilen Hang im schönen Pozzuoli, Via Scipione Capece. Dort leben die, die es sich leisten können. Die Fassaden der flachen Villen mit ihren großen Terrassen, wie hingeklebt an den Hügel, müssen jeden Sommer frisch gemalt werden, weil die Feuchtigkeit vom Meer sie zerfrisst. Nur ein paar Pinien verstellen die Sicht auf den Vesuv, den Golf, die Halbinsel von Sorrent, die da vorne verschwommen im Hitzedunst liegt. Die Pinien riechen nach Süden, trocken und herb. In der Bar unten bei der Tankstelle wissen sie, dass nun Mario Rui im Haus Maradonas lebt, ein sehr mittelmäßiger portugiesischer Außenverteidiger der Società Sportiva Calcio Napoli.

"Maradona packte diese Stadt auf seine Schultern, wie ein politischer Anführer", sagt Massimiliano Gallo, der Gründer und Chefredakteur der Onlinezeitung Il Napolista, die Fußball und Politik mischt. Der Argentinier kam aus armen Verhältnissen, sieben Geschwister teilten ein Zimmer. "Arm, aber genial, so sehen sich die Neapolitaner auch." Mit seinem Hang zu Exzessen, seinem prallen Herzen, mit allen Widersprüchen passte Maradona gut nach Neapel. Er verstand die Menschen, er war wie sie.

12 Millionen

Euro betrug in etwa die Ablösesumme, die der SSC Neapel im Jahr 1984 für Diego Maradona an den FC Barcelona bezahlte. Verglichen mit den damals üblichen Summen auf dem Transfermarkt sowie unter Berücksichtigung der Inflation gilt der Wechsel von Maradona in die süditalienische Stadt nach wie vor als einer der kostspieligsten Transfers der Fußballgeschichte.

"Er war ein Linkspopulist vor der Zeit, eine revolutionäre Figur auch jenseits des Sports", sagt Gallo. Er vergleicht ihn mit Muhammad Ali. Politik mit ganz anderen Mitteln. Maradona wehrte sich gegen den Kapitalismus im Fußball, gegen mächtige Klubpräsidenten und Funktionäre im Weltverband. Der Fußball sollte dem Volk gehören, nur ihm. Darin war er stur, ein Kämpfer. Aber natürlich, sagt Gallo, stecke in dieser Überhöhung auch viel Heuchelei.

Maradona kam auch deshalb nach Neapel, weil man ihn toll bezahlte. Die Serie A, Italiens Meisterschaft, war mal die beste Liga der Welt. Man habe ihn überhäuft mit Geld, sagte Maradona selbst einmal. Es war damals gerade viel Geld im Umlauf, auch aus tragischem Anlass. Nach dem Erdbeben in der Irpinia 1980, das auch Neapel traf, gab es Milliarden für den Wiederaufbau, und Bauaufträge in Fülle. In jeder Straße öffnete eine Anwaltskanzlei. Der Banco di Napoli, das lokale Geldinstitut, war eine nationale Größe. Und am Rand des alten Stadtzentrums entstand das Centro Direzionale, ein Viertel aus Hochhäusern, das so gar nicht in die Szenerie passt. Entworfen hatte es ein Stararchitekt aus Japan.

Man redete sich ein, Neapel sei jetzt die Hauptstadt des ganzen Mittelmeerraums. Regiert wurde die Stadt in jenen Jahren von der geschäftigen Democrazia Cristiana. Die neapolitanische Fraktion der Partei war so stark, dass sie auch in Rom ein Machtfaktor war, zeitweise stellte sie sieben Minister. "Neapel leidet an vielen Minderwertigkeitskomplexen und fühlt sich ständig eingekreist", sagt Gallo. Aber damals sei die Stadt stark gewesen. Der Mythos vom armen Verein, der über alle Mächte und Verschwörungen siegte, war ein hübsches Märchen, in dem man sich gerne spiegelte. Zwei Meistertitel gewann Napoli mit Maradona, die ersten überhaupt in der ganzen Vereinsgeschichte. Und eine europäische Trophäe noch dazu. Maradona machte aus Napoli eine Gewinnerstadt.

Nichts konnte ihm etwas anhaben, auch die Verteufelung nicht, im Gegenteil, sie stärkte ihn. Jede Skandalgeschichte in den Zeitungen des Nordens empfand man in Neapel als Angriff auf die Stadt. Die Drogen, die Probleme mit dem Finanzamt, die Nähe zur Camorra? Alles erfunden! Aus Neid! Um Neapel zu schaden! Die Aura Maradonas wurde nicht einmal von einem Foto beschädigt, das ihn in einer Badewanne in Muschelform bei den Giulianos zeigt, dem Clan aus dem Stadtteil Forcella. Umgeben von zwei Drogendealern, alle drei bekleidet, alle lachen. Die Polizei fand das Foto bei einer Hausdurchsuchung. Doch wer wollte schon den ersten Stein werfen?

In einer Kirche begehen sie Maradonas Geburtstag wie Weihnachten

Am blauen Tor des Centro Paradiso hängt auch ein Poster: ein junger Maradona in rotem Gewand mit Heiligenschein, die Hände zur Segnung erhoben. "Santo Diego", steht darunter.

"Ho visto Maradona", ich habe Maradona gesehen, wurde zum triumphalen Mantra. Sie singen es noch heute im Chor, als wäre ihnen der Messias erschienen. Für viele war diese Möglichkeit, Maradona zu sehen, jeden zweiten Sonntag im San Paolo, die einzige Extravaganz ihres Alltags, ihr ganzer Reichtum.

"Die Zeit vergeht, aber er bleibt", sagt der Barmann in der Bar Nilo an der "Spaccanapoli", der Straße, die das dichte historische Zentrum wie eine lange, gerade Furche durchzieht. Das Lokal ist ein Schrein, eine einzige Hommage an Maradona. An der Wand rechts neben dem Eingang hängt ein reich verzierter Altar, mit Marienbildchen und Fotos. Das beste Stück ist eine Locke Maradonas, sie ist eingerahmt. "Er war alles", sagt der Barista.

Es gibt auch Pizzerien, die Diego Maradona gewidmet sind. In einer Kirche Neapels begehen sie dessen Geburtstag wie Weihnachten. In den Gassen der Quartieri Spagnoli, dem Bauch der Stadt, haben sie Maradona auf viele Hauswände gemalt, manche dieser Graffiti sind so groß wie ganze Häuser. Das berühmteste findet man an der Via Emanuele de Deo, einer festen Etappe auf der Wallfahrt zum Verklärten. Die Piazza davor ist ein Parkplatz.

Die Legende ist intakt, vielleicht ist sie mit den Jahren sogar noch größer geworden, als sie es früher war. Versetzt mit Wehmut und Romantik. Mag die Welt auch über Maradona lachen, über seine Gewichtsprobleme, die Aussetzer in der Öffentlichkeit, die Wirren seiner Familie und die durchzogene Fortüne als Trainer: In Neapel verehren sie ihn wie ein Kulturgut. Ein Museum haben sie ihm aber nicht gewidmet, wo es doch Museen für viel weniger gibt. Das Museum ist drinnen, in den Erinnerungen. So lässt sich die Geschichte zur Not auch besser biegen und schönen.

Napoli hat nie mehr gewonnen, seit Maradona weggegangen ist. Der Verein erlebte zwischendurch sogar den totalen Absturz, Serie C, die Pleite. Dann übernahm der Filmproduzent Aurelio De Laurentiis den Klub, ausgerechnet ein Römer. Seit einigen Jahren spielt man wieder ganz vorne mit, aber immer hinter Juventus Turin. Für die Restauration der alten Machtverhältnisse brauchte es nicht viel.

Wenn Maradona nach Neapel kommt, buchen sie die Oper für ihn, das Teatro San Carlo, und der Staat bietet die Armee auf. Sonst wäre das Chaos zu groß. Das pralle Herz der Stadt, es platzt dann fast. Maradona war kein moderner Profi, keiner dieser stromlinienförmigen, von Kommunikationsabteilungen geglätteten Nichtssager. Er sagte, was er dachte. Das war nicht immer sehr schlau, aber er war frei. Ein Revolutionär. "Capo popolo", sagt Massimiliano Gallo vom Napolista. Ein Chef des kleinen, großen Volkes. Wenigstens in Neapel. Ein sanfter Demagoge mit Ball.

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SZ vom 31.08.2019/jbe
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