Manchmal, wenn er die Augen schließt, dann sieht sich Jordan Sowers wohl tatsächlich auf dem Spielfeld. Die Menschen auf den Tribünen sind von ihren Sitzen aufgesprungen, es laufen die letzten Sekunden des Spiels. Crunch Time nennen die Amerikaner das, und Sowers gilt als einer, der in diesen prägenden Momenten ganz besonders herausragend agiert: kurze Körpertäuschung, ansatzloser Wurf. Die Schlusssirene ertönt, die Kugel rauscht durch den Korb. Es ist ein emotionaler Höhepunkt, wie ihn selbst die millionenschweren Athleten der nordamerikanischen Basketballliga NBA nur selten erleben.
Sowers ist Basketballspieler - allerdings nicht auf dem Parkett, sondern an der Spielkonsole.
"Ich habe Basketball schon als Kind geliebt, bin allerdings nicht mit dem notwendigen Körperwuchs gesegnet", sagt Sowers grinsend und schaut an sich herab. "Gucken Sie mich doch mal an: fünf Fuß acht!" Tatsächlich: Mit 173 Zentimetern und ein wenig Hüftgold wird man kein Profi in einer Liga, in der mittlerweile sogar Aufbauspieler die Zwei-Meter-Marke knacken. Dennoch ist Sowers an diesem sonnig-kalten Märzabend nach Brooklyn gekommen, um in der Halle, in der gewöhnlich der Profiklub Nets seine Heimspiele austrägt, an der Talentauswahl der NBA teilzunehmen. Jener für die Computerspielliga NBA2K, die der Basketballkonzern gemeinsam mit dem Videospielhersteller Take-Two Interactive betreibt.
Wettbewerbe in Videospielen sind längst als Sportart anerkannt: Amerikanische Universitäten vergeben Stipendien an die besten Spieler, finanzkräftige Unternehmen wie Nike, Mercedes oder McDonald's unterstützen die einzelnen Ligen, Profis wie Kuro Takhasomi (Deutschland, Dota 2), Sasha Hostyn (Kanada, Starcraft II) oder Lee Sang Hyeok (Südkorea, League of Legends) verdienen pro Jahr Gehälter, Prämien und Sponsorengelder im siebenstelligen Bereich. Und bei der Debatte, ob Computerspiel-Turniere ins olympische Programm aufgenommen werden sollen, ist mittlerweile die Frage erlaubt: Kann es sein, dass Olympia die Videosportler dringender braucht als umgekehrt?
Dominiert wird der Esport von Strategie- und Shooter-Spielen, Sportspiele belegen derzeit nur eine Nische. Interessant sind sie dennoch, weil es nun mal das sportliche Pendant aus der wirklichen Welt gibt. Die Zuschauer kennen Regeln, Ligen und Vereine, und es gibt bereits eine breit aufgestellte und loyale Fanbasis. Ligen wie NBA2K dienen als Hybrid, um Leute aus der analogen Welt für diese neuen Disziplinen zu begeistern, und sie sollen junge Menschen noch stärker an die NBA binden, die sich derzeit auf recht aggressivem Expansionskurs befindet.
Es soll zu einer Win-Win-Situation und damit zu einer, nun ja, Gelddruckmaschine für alle Beteiligten werden. "Mehr als 250 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr Esport geguckt", sagt Take-Two-Geschäftsführer Strauss Zelnick am Rande der Brooklyner Talentshow, des sogenannten Drafts:"Wir werden in diesem Jahr mehr Exemplare von NBA2K verkaufen als jemals zuvor." Die Tech-Giganten AT&T, Dell und Intel sind Sponsoren der Liga, die im April mit 21 Mannschaften (alle sind mit tatsächlichen NBA-Teams verbandelt) die zweite Saison beginnen wird.
Jede Mannschaft besteht aus fünf Spielern und einem Ersatzspieler, die jeweils ihren ganz speziellen Avatar steuern. Anders als Hobby-Sportlern sind das nicht Abbilder der tatsächlichen NBA-Profis, sondern Neuschöpfungen, die aus Gründen der Chancengleichheit auf ihren Positionen jeweils gleich programmiert sind. Es hängt also allein vom Geschick und der Übersicht des Esportlers ab, ob seine Figur einen Drei-Punkte-Wurf schafft oder einen Ballverlust produziert.
198 Sportler bewerben sich an diesem Märzabend in Brooklyn um 75 freie Plätze. Die in der ersten Runde Gewählten bekommen ein Grundgehalt von 37.000 Dollar, sie dürfen individuelle Sponsorenverträge abschließen. Die Liga bezahlt Kost und Logis, es gibt auch Kranken- und Sozialversicherung sowie Zuschüsse zur Rente. Die beiden Turniere während der regulären Saison sind mit jeweils 180.000 Dollar dotiert, das siegreiche Team bekommt 360.000 Dollar. Die besten Spieler dürften also während der sechs Monate dauernden Spielzeit deutlich im sechsstelligen Bereich verdienen.
Der Platz vor dem Barclays Center, dort, wo sonst die Fans der Nets vor den Spielen Schlange stehen, ist wie leergefegt an diesem Nachmittag. Ein paar Leute eilen vorbei, verschwinden in U-Bahn-Schächten und umliegenden Geschäften. Drinnen jedoch, in diesem hochmodernen Tempel des Sport-Kommerzes, geht es fast zu wie bei der Talentwahl der NBA. Auf dem - wenn auch kurzen - roten Teppich drängen sich Dutzende junge Leute. Fast alle sind Männer, sie tragen Hemd, Anzug, Fliege oder Krawatte, die mutigeren kombinieren bunt-karierte Sakkos mit dicken Sonnenbrillen und Schuhen mit goldenen Stacheln.
Es gibt die Sportlichen, die Seriösen, die Lässigen, die Dandyhaften. Manche sehen aus wie jene stereotypen Nerds, wie man sie aus Dokumentationen und Netflix-Serien kennt: ein paar Pfunde zu viel, schlecht sitzendes Hemd, die Haare leicht fettig. Auf der anderen Seite sind da aber auch die Bling-Bling-Typen, die zwar noch keine Stars sind, sich aber schon so aufführen: ausgefallene Frisur, Ray-Ban-Sonnenbrille, dicke Ringe an den Fingern.