Süddeutsche Zeitung

NBA:Drecksarbeit als Gegenmittel

Nach dem Weggang von Kawhi Leonard werden den Toronto Raptors nur wenig Chancen eingeräumt, ihren NBA-Titel zu verteidigen. Dabei haben sie eine spezielle Abwehrstrategie, an der auch die besten Schützen verzweifeln.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es lohnt bisweilen, einem Menschen zuzuhören, der Ahnung hat von dem, worüber er spricht. Natürlich gibt es Statistiken und das Prognosemodell von Nate Silver (der bei der Präsidentschaftswahl 2012 in den USA sämtliche Bundesstaaten korrekt vorhersagte), das Raptor heißt und das dem gleichnamigen Basketballklub aus Toronto gerade mal eine Chance von zehn Prozent gibt, in dieser Saison die Finalserie der Profiliga NBA zu erreichen. Es ist deshalb wichtig, was LeBron James von den Los Angeles Lakers sagt: "Die Medien reden nicht über die Raptors, weil Kawhi weg ist - aber alle Spieler wissen, wie großartig sie sind. Ohne Wenn und Aber."

Kawhi, das ist Kawhi Leonard, den viele Beobachter für ebenso gut halten wie James, den dreimal als NBA-Champion und viermal als "wertvollster Spieler des Jahres" ausgezeichneten Profi. Leonard hatte die Raptors in der vergangenen Saison zum Titel geführt, in der Sommerpause wechselte er dann in seinen Heimat-Bundesstaat Kalifornien zu den Los Angeles Clippers. Die sind nach der Fortsetzung der Saison in Disneyworld neben den Lakers und den Milwaukee Bucks favorisiert, die abgeschirmte Blase im Oktober als Meister zu verlassen. Die Raptors dagegen hat sogar der Raptor ignoriert.

Toronto hat beim Neustart erst die Lakers (107:92) besiegt und danach Miami Heat (107:103), zwei schwierige Gegner. Sie haben die drittbeste Bilanz der Liga (48:18 Siege), weshalb die Frage nun lautet, wie sie das machen, wo sie doch im Sommer für Leonard keinen gleichwertigen Ersatz bekommen haben. Die Antwort: Sie hatten schon in der vergangenen Saison eine Gegenbewegung entworfen zu jenem Trend, der die NBA in den vergangenen Jahren so geprägt hat - und die haben sie nun verfeinert.

Die Aufbauspieler übernehmen in der Defensive die ungeliebte Drecksarbeit

Statistiken sind hin und wieder doch sehr aufschlussreich, und es gibt da eine Grafik des Daten-Sportjournalisten Kirk Goldsberry, die diese gewaltige Veränderung illustriert: Gezeigt werden die 200 häufigsten Positionen, von denen aus in der NBA auf den Korb geworfen wird. Vor 20 Jahren war das noch recht gleichmäßig verteilt, in der vergangenen Saison gab es quasi nur noch zwei Orte: in der Zone unter dem Korb oder jenseits der Drei-Punkte-Linie. Die Golden State Warriors haben so fünfmal nacheinander die Finalserie erreicht und dreimal den Titel gewonnen.

Wer das Gegenmittel sehen will, sollte die nächste Partie der Raptors am Mittwoch gegen Orlando Magic betrachten und dabei die Positionen der Raptors in der Defensive. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Den Korb bewachen die spanischen Veteranen Marc Gasol, 35, und Serge Ibaka, 30, die sich blind verstehen; draußen sind die Aufbauspieler Fred VanFleet und Kyle Lowry unermüdlich unterwegs und versuchen, weniger mit Ballstibitzen oder geblockten Würfen zu glänzen als vielmehr mit einer unbeliebten Drecksarbeit: Gegner bei Würfen mit einer Hand in deren Gesicht stören oder Offensivfouls provozieren. Die Raptors lassen nur 33,6 Prozent erfolgreiche Drei-Punkte-Versuche zu - das ist der beste Wert der Liga.

Diese Strategie klingt einfach, ist jedoch schwierig umzusetzen, weil es zum einen den unfassbar vielseitigen und intelligenten Pascal Siakam als Bindeglied braucht, der trotz einer Körpergröße von 2,06 Metern so beweglich ist, dass er auch jenseits der Drei-Punkte-Linie verteidigen kann. Zum anderen braucht es das Vertrauen, auch mal jemanden unbewacht zu lassen - das gehört zur Strategie: Sie verfolgen die besten Schützen der Gegner regelrecht und verhindern deren Würfe; Miamis Profi Duncan Robinson etwa, bislang hinter James Harden (Houston Rockets) der Spieler mit den meisten Dreiern in dieser Saison, probierte gegen Toronto nur drei Drei-Punkt-Würfe und traf davon einen.

Dass immer ein gegnerischer Spieler unbewacht ist, nehmen die Raptors bewusst in Kauf. Sie erlauben so viele offene Drei-Punkte-Würfe wie sonst keine Mannschaft, nur eben meist von Spielern, die keine so guten Schützen sind. Der Gegner wird zu einer Entscheidung gezwungen: Sollen die besten Werfer heftig bedrängt abdrücken oder soll man einem weniger begabten Schützen vertrauen? Häufig lautet die Antwort in dieser Liga, die offiziell Teamsport betreibt, jedoch letztlich sehr individualistisch veranlagt ist: Der Star wirft, auch wenn er von zwei Raptors gestört wird.

Kein Team lässt weniger Punkte zu als die Raptors

Torontos Trainer Nick Nurse hat diese sogenannte Box-and-one-Strategie (ein Spieler bewacht den Star des Gegners, alle anderen spielen Raumdeckung und schwärmen zur Doppelbewachung aus) verfeinert, Manager Masai Ujiri hat ihm trotz des Weggangs von Leonard einen Kader hingestellt, der uneitel diese mühselige und in Statistiken kaum zu erkennende Strategie umsetzt. Es tut weh, sich von einem Gegenspieler umrennen zu lassen, und dieses Offensivfoul taucht in kaum einer Statistik auf. Was zu sehen ist: Miami hat gegen die Raptors knapp zehn Punkte weniger erzielt als im Schnitt, die Lakers gar 22 weniger. Die Statistik, auf die es letztlich ankommt: Kein Team lässt weniger Punkte zu als die Raptors (106,3).

Es lohnt bisweilen, einem Menschen zuzuhören, der Ahnung hat von dem, worüber er spricht. Als die Raptors während der Finalserie der vergangenen Saison, die sie mit 4:2 gegen die Warriors gewannen, den Gegner so nervten, dass sich zum Beispiel der Scharfschütze Steph Curry über die gegnerische Defensive beschwerte, sagte Leonard nur den nun legendären Satz: "Board man gets paid!" Er erklärte später, dass damit nicht nur Rebounds gemeint seien, sondern sich am Ende jegliche Drecksarbeit auszahlen würde. Leonard mag nach Los Angeles gewechselt sein, das Mantra haben die Raptors behalten.

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SZ vom 05.08.2020/tbr
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