Süddeutsche Zeitung

Enes Kanter:Wortgewaltiger Erdoğan-Kritiker

  • Enes Kanter spielt mit den Portland Trail Blazers unter erschwerten Bedingungen in der Halbfinalserie der NBA.
  • Als Muslim darf er während des Fastenmonats Ramadan erst nach Sonnenuntergang Essen und Medikamente zu sich nehmen.
  • Er sieht es als Beweis innerer Stärke, die er als großer Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schon häufig gebraucht hat.

Von Jürgen Schmieder

Es war ein wunderbarer Pass, den Seth Curry um exakt 20.20 Uhr auf seinen Teamkollegen Enes Kanter spielte. Völlig frei war der, und er nahm dieses schöne Zuspiel auch gekonnt auf. Nur: Kanter war gerade gar nicht im Spiel. Er wartete an der Seitenlinie auf Essen, Wasser und Medikamente - Dinge, die er als Muslim während des Fastenmonats Ramadan erst nach Sonnenuntergang zu sich nehmen darf (an diesem Abend in Oakland/Kalifornien um 20.21 Uhr). 105:98 führten seine Portland Trail Blazers zum Zeitpunkt dieses grotesken Fehlpasses, am Ende verloren sie diese zweite Partie der Halbfinalserie gegen die Golden State Warriors noch mit 111:114.

Kanter ist einer dieser Akteure, die nicht auf der Verpackung von Videospielen zu sehen sind oder in den Anderthalb-Minuten-Zusammenfassungen mit den spektakulärsten Dunkings und wildesten Würfen einer Partie. Sie sind dennoch sehr wichtig im Basketball, weil sie unter den Körben wühlen, Rebounds pflücken und beim Dribbling der Kollegen im Laufweg der Gegner stehen. Bei den Warriors ist Andre Iguodala der Mann für die unliebsamen Aufgaben, im anderen Halbfinale Marc Gasol (Toronto) und Eric Bledsoe (Milwaukee). Doch haben diese drei Akteure in den NBA-Playoffs gemeinsam nicht so viel erlebt wie Kanter allein.

Es begann vor drei Wochen, als sich der Center während der Erstrunden-Partie gegen Oklahoma die linke Schulter auskugelte und trotz lädierter Bänder bis zum Ende durchhielt. Er spielt seither mit starken Schmerzen. Eine Runde später gegen die Denver Nuggets kam es noch schlimmer: Während der spektakulären dritten Partie (Portland gewann nach vier Verlängerungen) dehnte er die Bänder noch stärker, am Ende trug er den linken Arm im Trikot, weil er ihn nicht mehr heben konnte, hatte aber 18 Punkte und 15 Rebounds geschafft und sagte: "Manchmal muss man eben Opfer bringen."

Zwei Tage später begann der Fastenmonat, Kanter darf tagsüber keine Schmerzmittel zu sich nehmen. Er steht deshalb jeden Tag um halb vier Uhr morgens auf, stärkt sich und wartet bis zum Abend, dass ihm jemand eine Flasche Wasser, Medikamente und sechs Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade reicht. "Ich fühle mich großartig, weil ich verstehe, wie innere Stärke zum Erfolg führen kann", schrieb Kanter kürzlich in einem Essay für die Zeitung Washington Post. Er schrieb darin aber auch: "Ich verarbeite die beunruhigenden Nachrichten meiner Familie und Freunde aus der Türkei, wo eine Nation unter dem autoritären Regime leidet."

Kanter, 26, ist ein wortgewaltiger Kritiker von Recep Tayyip Erdoğan, auf Twitter hat er den türkischen Präsidenten schon "Diktator", "verdammter Irrer" und "Hitler des 21. Jahrhunderts" geschimpft. Er gilt als Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, der seit mehr als 20 Jahren im amerikanischen Exil lebt und dessen Bewegung von der Regierung Erdoğan für den gescheiterten Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 verantwortlich gemacht wird. Für seine Gefolgschaft hat sich Kanter von seiner Familie losgesagt, die seine politische Haltung kritisiert hatte.

Zunächst wurde Kanter nicht mehr zur türkischen Nationalmannschaft eingeladen, im Mai 2017 erfuhr er während einer Reise nach Rumänien, dass die türkische Regierung seinen Reisepass annulliert hatte und dass es einen internationalen Haftbefehl gegen ihn gibt - wegen Mitgliedschaft bei einer terroristischen Vereinigung. Kanter, in der Schweiz geboren und im ostanatolischen Van aufgewachsen, ist seitdem staatenlos; erst in zwei Jahren darf er sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft bewerben. Im Januar sagte er eine Reise mit seinem damaligen Klub New York Knicks nach London ab, aus Furcht vor einem Attentat des türkischen Geheimdienstes. "Es wäre ziemlich leicht, mich dort zu töten", sagte Kanter damals.

Im Februar wechselte Kanter nach Portland, er gilt dort als das Puzzlestück zum möglichen Titelgewinn, weil er den Aufbauspielern Damian Lillard und C.J. McCollum den Weg frei sperrt - und deren Fehlwürfe er aufgrund seines außerordentlichen Timings aus der Luft pflückt. In den Playoffs schaffte er bislang 12,1 Punkte und 10,5 Rebounds pro Spiel - die Leute in der Türkei können das aber nicht sehen. Der TV-Sender S Sport zeigt keine Spiele mit Kanter, ein Sprecher sagte dazu: "Das ist eine Situation, die nicht an uns liegt." Ein Hinweis, dass der Befehl zur Nicht-Ausstrahlung von der Erdoğan-Regierung kam. "Das ist keine Überraschung, das war vor vier Jahren in den Playoffs auch schon so", sagt Kanter: "Mich schmerzt mehr, dass mein Land das durchmachen muss."

Sollten Portland und Toronto die Finalserie erreichen, müsste Kanter zu den Auswärtsspielen nach Kanada reisen. Ron Wyden, Senator des US-Bundesstaates Oregon hat bereits einen Brief an Kanadas Premierminister Justin Trudeau geschickt mit der Bitte, den Haftbefehl gegen Kanter zu ignorieren. So weit ist es freilich noch lange nicht, Portland hat die beiden ersten Partien in der Halle der Golden State Warriors verloren. Das dritte Spiel der Serie findet an diesem Samstag um 18 Uhr statt. Sonnenuntergang in Portland an diesem Tag: 20.38 Uhr.

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SZ vom 18.05.2019/tbr
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