Aus gegebenem Anlass eine Sequenz, die Franz Wagner am Ende des ersten Viertels der Partie seiner Orlando Magic bei den Detroit Pistons vorgeführt hat: Er zog von der Mittellinie aus zum Korb; vorbei an drei Gegenspielern, die angesichts der Geschmeidigkeit von Wagner wirkten wie Slalomstangen. Mit einem Schritt zur Seite wich er einem vierten Gegner aus, verlor jedoch die Balance und konnte den Ball nicht im Korb unterbringen. Darauf schnappte er sich seinen eigenen Rebound, drehte sich um jenen Gegner, dem er davor ausgewichen war, tauchte unter dem Korb durch und legte das Spielgerät rückwärts über das Brett ins Netz - ein bis dahin wohl nicht gesehenes Kunststück.
Es war die erste Partie der neuen NBA-Saison. Natürlich wollen die Teams zeigen, was sie draufhaben; sie wissen aber auch, dass noch 81 weitere Spiele folgen. Über die 109:113-Niederlage dürfte Orlando auch nicht lange betrübt sein, denn der viertjüngste Kader der Liga funktioniert. Die erste Wahl seines Jahrgangs, Paolo Banchero, legte ein formidables Profi-Debüt (27 Punkte und neun Rebounds) hin - und dieser Franz Wagner (20 Punkte, fünf Rebounds), der könnte tatsächlich einzigartig sein, weil er im Sommer den nächsten Schritt einer Entwicklung gemacht hat, von der sie hoffen, dass nach weiteren Schritten die Chance auf den ersten Titel der Vereinsgeschichte besteht.
Der Spielmacher der deutschen Basketball-Nationalmannschaft will bei seinem zweiten Engagement bei den Lakers einiges klarstellen, auf und neben dem Platz - vor dem Saisonstart überrascht er mit einer Aussage.
"Einzigartig", das Wort verwendet man, wenn spezielle Leistungen anderer auf ähnlich hohem Niveau fehlen. Für einen Sportler kann es ein großes Kompliment sein, weil es suggeriert, dass er die Chance hat, eine Sportart entscheidend zu prägen. Dirk Nowitzki zum Beispiel war einzigartig, weil niemand seiner Größe so gefühlvoll werfen konnte und er diesen Drehung-Flamingo-Sprungwurf so perfektionierte, dass er kaum zu verteidigen war und seitdem imitiert wird - unter anderem von Wagner ein paar Mal gegen Detroit.
Was lässt Wagner herausragen? Da sind die offensichtlichen Elemente, die gegen Detroit zu sehen waren: wie geschmeidig er sich bei einer Größe von 2,08 Metern bewegt. Wie viel er ohne Ballbesitz läuft. Wie sich sein Wurf aus der Halbdistanz verbessert hat, an dem er im Sommertraining ganz besonders gearbeitet hat. Wie aufmerksam er in der Defensive arbeitet und deshalb ein Ballstibitzer von der Qualität eines Scottie-Pippen werden könnte. Wie uneigennützig er agiert und sich im Pick-and-Roll mit den Kollegen Banchero und Wendell Carter Jr. versteht.
Wagner hat sich im Sommer weitere Pfunde an Muskeln antrainiert
Das sind alles Dinge, die zeigen, wie gut Wagner bereits ist; die Frage zu Beginn seiner zweiten NBA-Saison ist jedoch: Wie gut kann er noch werden? Offiziell ist er Flügelspieler, aufgrund seiner Beweglichkeit kann er gegen Spielmacher verteidigen (was er vergangene Saison in 40 Prozent seiner Spielzeit tat) - und aufgrund seiner Größe und Wucht (er hat sich im Sommer weitere Pfunde an Muskeln antrainiert) kann er nun gegen die Wühlbüffel unter dem Korb bestehen. Der 21-Jährige ist einer der vielseitigsten Basketballspieler derzeit, und er weiß, was er mit dieser Vielseitigkeit anstellen kann.
"Basketball-IQ" ist noch so ein Wort, das Beobachter verwenden, wenn sie nicht genau wissen, warum einer gut ist. Wer Wagner abseits des Parketts erlebt, dürfte erkennen, dass nur ein kleiner Teil ein Geschenk der Natur ist. Er ist einer, der abwägt, analysiert; einer, der Partien nicht nur der Unterhaltung wegen guckt, sondern immer etwas dabei lernen will. Er ist Basketball-intelligent, klar, er ist aber auch Basketball-gebildet, was heißt, dass er nie zufrieden ist. Dass er immer besser werden will.
Seit dieser Saison dürfen Baseballspieler über ein Funksystem an ihren Handgelenken und in ihren Mützen miteinander kommunizieren - doch das funktioniert nicht immer wie gewünscht.
Wie gut kann er werden? Interessanterweise war eine seiner Schwächen in der beschriebenen Sequenz zu sehen. Er weicht Gegenspielern aus, was intuitiv richtig ist; man will ja möglichst unbedrängt werfen. Eine der großen Stärken von Nowitzki nach einigen harten NBA-Jahren war es aber, Kontakt zu suchen - um auf jeden Fall an die Freiwurflinie treten zu dürfen. Als die Mavericks 2011 den Titel holten, schaffte Nowitzki 45 seiner 156 Punkte mit Freiwürfen - von denen er nur einen verwarf. Freiwürfe von Wagner gegen Detroit: zwei, er traf beide. Mehr Kontakt, auch wenn es gegen die eigene Intuition geht, das wäre einer der nächsten Schritte.
Wie gesagt: Es war die erste Partie von 82, und Orlando steht nicht im Verdacht, heuer den Titel holen zu können. Der junge Kader soll nun gemeinsam die nächsten Schritte gehen, sie haben da keinen Druck. Sie wollen, dass sich die Spieler wohlfühlen und möglichst langfristig bleiben; Trainer Jamahl Mosley etwa flog nur wegen Wagner zur EM nach Europa, was der "richtig cool" fand. Sie wollen etwas aufbauen, und Wagner soll dabei einer der Eckpfeiler sein. Wer den Titel gewinnen will, braucht keine Spieler, die gut sind, sondern: einzigartig.
