Süddeutsche Zeitung

NBA-Finalserie:Boston ignoriert die Nadelstiche

Im dritten NBA-Finalspiel gehen die Celtics in Führung - obwohl Draymond Green von den Golden State Warriors einen starken Auftritt hinlegt. Doch Boston schafft es, ihn zu falschen Schritten zu provozieren.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Jaylen Brown hielt sich die rechte Schulter, sein Blick: verdutzt und verärgert. Er wirkte wie ein Teenie, der zum ersten Mal tätowiert wird und beim ersten Nadelstich merkt, wie verdammt weh das nun tun wird. In gewisser Weise war genau das passiert: Der Aufbauspieler der Boston Celtics war in eine Rangelei mit Draymond Green verwickelt, und der Flügelspieler der Golden State Warriors ist gewissermaßen der Tätowierer der Basketballliga NBA: Er setzt Nadelstiche, und irgendwann ist er unter der Haut seines Gegners, und dann geht er nicht mehr fort.

Es ist interessant, was Brown als Nächstes tat, denn es hilft zu erklären, warum die Celtics dieses dritte Spiel der Finalserie 116:100 gewannen: Er jammerte nicht, er gab aber auch nicht den halbstarken Max, wie es viele im direkten Duell mit Green probieren und jämmerlich scheitern. Brown unternahm rein gar nichts. Er wischte sich die Schulter ab, stand auf und spielte einfach weiter, als sei nichts gewesen.

Der Umgang der Boston Celtics mit diesem Draymond Green dürfte entscheidend für den Ausgang der Best-of-seven-Serie sein - es lohnt deshalb, den Provokateur mal eine komplette Partie lang zu betrachten und nicht nur die Szenen zu studieren, die in Highlights zu sehen sind: diese Rangelei mit Brown, das provozierte Foul gegen Grant Williams mit sarkastischem Klatschen, der Trashtalk gegen Brown nach krachendem Block. Das sind die Momente, deretwegen Brown auf die Frage, wo er den Nerv-Faktor von Green auf einer Skala von eins bis zehn einordnen würde, "zwölf" sagte.

Zu Beginn des Schlussviertels hatte Green fünf Fouls - das nutzte Brown

Es sind Szenen, in denen er unter die Haut des Gegners will; die Nadelstiche dafür setzt er davor. Es wäre falsch, Green lediglich als wütenden Wühlbüffel zu betrachten, nur deshalb würden ihm die Warriors heuer nicht 25 Millionen Dollar bezahlen. Nur deshalb hat er keine drei NBA-Titel und zwei olympische Goldmedaillen gewonnen, nur deshalb wurde er nicht vier Mal ins All-Star-Team berufen. Denn Green ist ein wandelnder NBA-Datensatz, er kennt jede Statistik, jede noch so kleine Eigenheit der Gegner. Von Kollegen hört man, dass er sich intensiv mit der Psyche von Sportlern beschäftigt.

Green tätowiert also nicht einfach los; er erschafft kleine Kunstwerke, wie es einst Dennis Rodman bei den Detroit Pistons und später den Chicago Bulls getan hat. Auch Rodman war ein Datensatz, er begeisterte sich für diese mentalen Kämpfe. Das beinhaltet bei Green auch ein Gespür dafür, wann er seine Nadel ansetzen muss, wann er einen Stich setzen kann, wann die Tinte fließen muss - denn bei dieser Spielweise ist auch klar: ein paar falsche Striche, und das Bild ist völlig verhunzt.

Genau das war in dieser dritten Partie zu beobachten: Als die Warriors in der ersten Halbzeit deutlich zurücklagen, provozierte Green eine kleine Rangelei; kurz darauf gelangen ihm zwei schöne Zuspiele, und die Warriors blieben dran. In der zweiten Halbzeit dann diese Minute, bei der Gegenspieler ein Green-Tattoo verpasst kriegen: Rebound, dann sperrte er den Weg frei für den Scharfschützen Stephen Curry. Der traf von jenseits der Drei-Punkte-Linie und wurde dabei absichtlich gefoult, also: Zusatz-Freiwurf plus Ballbesitz, der zu noch einem Dreier führte. Sieben schnelle Punkte. Beim nächsten Ballbesitz sperrte Green wieder für Curry frei: noch ein Dreier. Plötzlich führten die Golden State Warriors. Normalerweise gucken die Gegner verdutzt und verärgert, sie jammern oder begehren auf - und haben in diesem Moment verloren.

Wie geht man um mit so einem Tätowierer, der seine Kunst in neun Profijahren nahezu perfektioniert hat? Nun, man muss sich selbst auf diesen Grat begeben, den Green schreitet, immer an der Grenze zwischen spielprägender Aktion und technischem Foul oder gar Hinausstellung. Man muss mutig sein und Green zu falschen Stichen provozieren; man muss die Schulter wegziehen, wenn er einen wunden Punkt erwischt hat. Das hört sich einfach an, ist jedoch unfassbar schwierig, und Brown hat am Mittwochabend ein eigenes Kunstwerk gezeichnet für den Umgang mit Green.

Die Fans beleidigen Green und rufen: "Fuck you, Draymond"

Er reagierte nicht auf Provokationen (Kollege Williams dagegen war zwei Mal kurz vor der Halsschlagaderzerrung), er attackierte Green mutig und unermüdlich. Das führte dazu, dass Green ein Foul sammelte, und noch eins, und noch eins. Green braucht aber Freiheit, sich danebenbenehmen zu können - er weiß zum Beispiel, dass ihn kein Schiedsrichter der Welt wegen einer Debatte mit dem Gegenspieler während einer Finalserie rauswerfen wird. Er diskutiert trotz Verwarnung einfach weiter, Green weiß genau, was er tut.

Nun aber hatte er schon zu Beginn des Schlussviertels fünf Fouls, er war also wie ein Tätowierer ohne Tinte, und das nutzte Brown. Er attackierte weiter, die Celtics zogen davon, und mehr als vier Minuten vor dem Ende war es so weit: sechstes Foul Green, er war raus, und wie erleichtert die Fans in Boston darüber waren, zeigte sich in der höchsten Anerkennung, die Fans einem Sportler zukommen lassen können: Sie beleidigten ihn und riefen "Fuck you, Draymond".

Green lächelte, als er das hörte. Dieses Spiel war verloren, klar, aber er wirkte, als wisse er schon, was er bei der nächsten Partie in der Nacht zum Samstag tun will. Der Tätowierer startet dann wieder bei null Fouls, also mit gut gefüllter Nadel.

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