Süddeutsche Zeitung

NBA:Der Häuptling aus Kalifornien

Kawhi Leonard führt die Toronto Raptors zum ersten NBA-Titel eines kanadischen Teams: Zu Saisonbeginn brillierte er nicht, in den Playoffs stellte er dafür alle in den Schatten.

Von Jürgen Schmieder, Oakland/Los Angeles

Es ist eine bodenlose Frechheit, dass Kawhi Leonard zum wertvollsten Akteur der NBA-Finalserie gewählt worden ist. Natürlich soll der Flügelspieler der Toronto Raptors wegen seiner unfassbaren Leistungen jede Trophäe bekommen, deren er habhaft werden kann; Nick Nurse möge auch zum Trainer des Jahres gewählt werden und Masai Ujiri zum besten Manager dieser Spielzeit. Der wertvollste Akteur beim neuen Meister jedoch, das ist dieser 67 Jahre alte Typ mit den vielen weißen Haaren, der nach dem Triumph über die Golden State Warriors mit sehr viel Champagner übergossen wurde. Das wichtigste Puzzlestück der Raptors, das ist Alex McKechnie, auf dessen Visitenkarte der fantastische Titel "Director of Sports Science" steht.

Die Raptors haben die Finalserie mit 4:2-Spielen gegen einen von Verletzungen ausgedünnten Warriors-Kader gewonnen. In Oakland/Kalifornien werden sie deshalb darüber debattieren, ob sie Kevin Durant nach einer Wadenverletzung nicht zu früh haben spielen lassen (weil in Finalspiel fünf dessen Achillessehne riss), und ob die Knieblessur von Klay Thompson aus Spiel sechs nicht auch auf Überlastung und Ermüdung zurückzuführen ist. Man kann nun fragen: Was ist falsch gelaufen bei den Warriors? Oder aber: Was haben die Raptors da so alles richtig gemacht?

Die Geschichte dieser NBA-Meisterschaft, der ersten für ein kanadisches Team überhaupt, beginnt im März 2018 in Texas bei den San Antonio Spurs. Deren Profis wollten bei einer Aussprache von Kawhi Leonard wissen, was denn nun los sei mit Schulter und Oberschenkel, und ob er denn nicht mal aufs Parkett zurückkehren wolle. Leonard fühlte sich missverstanden; er sah keine Vertrauensbasis mehr im Verein und verlangte ein Tauschgeschäft nach der Saison. Die Raptors zeigten Interesse, sie hatten einen ordentlichen Kader, vor allem aber hatten sie diesen Direktor für Sportwissenschaft, der als Physiotherapeut der Los Angeles Lakers einst die gequälten Körper von Shaquille O'Neal, Kobe Bryant und Pau Gasol gepflegt hatte und dort fünf NBA-Titel gewinnen half.

Manager Ujiri fädelte das Tauschgeschäft ein. Er schickte für Leonard sogar Publikumsliebling DeMar DeRozan nach San Antonio. Und er entließ Dwane Casey, der kurz zuvor zum besten Trainer der Saison 2017/18 gewählt worden war. Ujiri wollte einen folgsamen Coach, der die Strategien von McKechnie akzeptiert. Nick Nurse, 51, zuvor fünf Jahre lang Assistenztrainer der Raptors, war bereit fürs große Experiment, in dem die 82 fest terminierten Saisonspiele lediglich als Trainingseinheiten für die Playoffs dienen sollten.

Golden State in fünf Finals: Die Endspielserien der NBA seit 2010

2010 Los Angeles Lakers - Boston Celtics 4:3

2011 Dallas Mavericks - Miami Heat 4:2

2012 Miami Heat - Oklahoma Thunder 4:1

2013 Miami Heat - San Antonio Spurs 4:3

2014 San Antonio Spurs - Miami Heat 4:1

2015 Golden State Warriors - Cleveland 4:2

2016 Cleveland Cavaliers - Golden State 4:3

2017 Golden State Warriors - Cleveland 4:1

2018 Golden State Warriors - Cleveland 4:0

2019 Toronto Raptors - Golden State 4:2

Leonard, 27, sollte maximal 60 Partien absolvieren, er sollte nie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mitwirken, ein nach der Muskulatur-Analyse erarbeitetes Trainingsprogramm sollte dafür sorgen, dass er nicht im Dezember oder Februar topfit sein werde, sondern pünktlich zum Start der Playoffs. So kam es. Bei der Wahl zum wertvollsten Akteur der Hauptrunde gehörte Leonard nicht zu den Top drei - das waren der Grieche Giannis Antetokounmpo aus Milwaukee, James Harden aus Houston und Paul George aus Oklahoma. In den Playoffs stellte Leonard sie alle in den Schatten.

Leonard ist kein Lautsprecher und kein Trash Talker. Er ist nicht auf der Jagd nach persönlichen Rekorden, und er lässt andere nicht die Drecksarbeit machen, damit er selbst glänzen kann. Er verteidigt leidenschaftlich, übernimmt Verantwortung in zentralen Momenten wie beim letzten Angriff des entscheidenden Viertelfinalspiels gegen Philadelphia - er traf.

Hinter so einem wachsen auch die Kollegen. Pascal Siakam, 25, zum Beispiel, der über seinen Anführer sagt: "Was ich von ihm gelernt habe? In jeder Situation ruhig, cool und gelassen zu bleiben." Oder Kyle Lowry, 33, der nach der Abschiebung von DeRozan wochenlang kein Wort mit Manager Ujiri sprach, dann aber den Sinn des Tausches erkannte - weil DeRozan eher einer für die 82 Saisonspiele, weniger aber für die Playoffs ist. Oder die Spanier Serge Ibaka, 29, und Marc Gasol, 34, die jetzt den ersten großen Titel ihrer Karriere feiern durften. Zudem Fred VanVleet, 25, den nach seiner College-Zeit kein Profiteam haben wollte, und der nun beim 114:110 im letzten Finalspiel einen Karriere-Höchstwert von 22 Punkten beisteuerte. VanVleet antwortete auf die Frage nach dem Grund für den Sieg in Spiel vier gegen die Warriors: "Kawhi ist rausgegangen und hat zwei Scheiß-drauf-Würfe versenkt. Das hat denen gezeigt, dass wir noch da sind."

Was dieser Leonard für ein Typ ist, war nach Ende der Ehrungen zu beobachten. Er gewann ja schon 2014 mit San Antonio den Titel, auch da wurde er zum wertvollsten Akteur der Finalserie gewählt. Was er denn den Kollegen aus jenem Jahr habe vermitteln können, wurde er gefragt. Die Antwort: "Ach, ich habe gesagt, dass man nun jeden Tag mit den Medien reden muss, und dass beim Aufwärmen ein paar Journalisten auf dem Parkett rumlaufen können. Ansonsten: Habt Spaß und genießt die Erfahrung!"

Wer will so einen Häuptling nicht im Team haben? Das aber könnte nun das Problem der Raptors werden. Leonard kann wechseln, wohin er möchte, und der gebürtige Kalifornier hat oft betont, dass er gerne in Los Angeles spielen würde. Sie machen sich aber nicht zu große Sorgen in Toronto. Warum sollte er Alex McKechnie verlassen, den Medizinmann? Aus der Kabine der Raptors wird Folgendes berichtet: Leonard habe darauf geachtet, dass er gleichzeitig mit dem "Director of Sports Science" mit Champagner übergossen wird.

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Quelle:
SZ vom 15.06.2019
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