Psychische Erkrankungen in der NBA:Kopfprobleme in der Muskelliga

NBA-Profi Kevin Love von den Cleveland Cavaliers im Zweikampf mit Taurean Prince von den Atlanta Hawks.

Kevin Love (li.) berichtet erstaunlich offen über eine Panikattacke während eines NBA-Spiels.

(Foto: AP)
  • Trotz sportlichen Erfolgs und Milliongehältern berichten erstmals zwei aktive NBA-Spieler von ihren psychischen Krankheiten.
  • In einer von Alphatieren dominierten Liga spricht DeMar DeRozan offen über seine Depression und wird dabei zum Vorbild.
  • Während eines laufenden NBA-Spiels erleidet Kevin Love eine Panikattacke, vor seinen Mitspielern hält er das zunächst geheim.

Von Mario Jonas Ködel

Solche Szenen lieben sie im amerikanischen Sport: Vergangene Nacht waren noch zehn Sekunden zu spielen in der NBA-Partie zwischen Toronto und Detroit. 112:111 für Detroit, ein Pünktchen nur trennte beide Teams, genügend Zeit für DeMar DeRozan, um alles nochmal für Toronto umzubiegen. "Coast to coast' nennen es die Amerikaner, wenn ein Basketballer vom eigenen Korb bis zum gegnerischen durchbricht - und genau das tat DeRozan: Er dribbelte über das ganze Feld und stopfte den Ball in den Korb. Zunächst ging es in die Verlängerung, anschließend gewannen seine Raptors das Spiel - DeRozan, ihr bester Mann seit einigen Jahren, ließ sich nach insgesamt 42 Punkten feiern.

DeRozan, 28, Tattoos am Arm, stählerne Muskeln, ein Springer und Flieger ist einer der spektakulärsten Basketballer der NBA. Olympiasieger, Weltmeister, Dunking-Spezialist, Topscorer seines Klubs mit 24 Zählern pro Partie. Doch hinter seinem Auftreten versteckte er jahrelang große Unsicherheiten. Erst vor wenigen Tagen gab er in einem Interview mit dem Toronto Star bekannt, dass er unter Depressionen leidet. "Ganz egal wie unzerstörbar wir aussehen, wir sind alle Menschen", berichtet er dort. Tiefgehende Einsichten eines Mannes mit knapp 27 Millionen Dollar Jahresgehalt, der in der Glitzerwelt der NBA eigentlich alles zu haben scheint.

Und er ist nicht der einzige Basketballer, dem es so ergeht. Kurz nach ihm, offenbarte sich in dieser Woche auch Kevin Love von den Cleveland Cavaliers. Auch den 29-jährigen Flügelspieler plagen psychische Probleme, wie er am Dienstag in einem viel beachteten Essay in dem Magazin Players Tribune schreibt. Mit bewegenden Worten erzählt Love, NBA-Meister, mehrfacher Allstar und ebenfalls Goldmedaillengewinner und Weltmeister, wie er im vergangenen Herbst während eines Spiels eine Panikattacke erlitt.

Zwei aktive, hochdekorierte NBA-Profis sprechen offen über ihre persönlichen Schwächen und mentalen Probleme - das gab es in der von Riesen und dicken Egos dominierten Liga noch nie.

"Es fühlte sich an, als würde mein Gehirn aus meinem Kopf herausplatzen."

Love ist den rauen Kampf unter NBA-Körben gewöhnt, mit seinen 2,08 Metern fischt er knapp zehn Rebounds pro Partie vom Ring. Er kennt die Ellbögen und Positionskämpfe auf dem Parkett. Doch jetzt schreibt er: "29 Jahre lang dachte ich, dass die mentale Gesundheit das Problem von anderen ist - doch ich habe realisiert, dass ich das überdenken muss." Über seinen Zusammenbruch vom 5. November während der Partie gegen Atlanta erzählt er, dass sich bei ihm während einer Auszeit plötzlich alles drehte. "Es fühlte sich an, als würde mein Gehirn aus meinem Kopf herausplatzen."

Seine Teamkameraden merkten von all dem nichts, Love verheimlichte seinen inneren Kampf zunächst. Er verließ die Arena und begab sich zu einer Klinik in Cleveland. Detailliert beschreibt er den Vorfall, der jetzt eine Tür öffnet ins Seelenleben eines vermeintlich unantastbaren Athleten. Sein Aufsatz endet mit den Worten: "Wenn du das liest und eine schwere Zeit hast, möchte ich dich daran erinnern, dass du nicht merkwürdig oder anders bist, weil du teilst, was du durchmachst."

Die Kraft und den Mut sich zu öffnen, holte sich Love auch bei DeMar DeRozan. Den prägte seine Kindheit im Problemviertel Compton in Los Angeles. Er wuchs in nächster Nähe von Bandenkriegen auf - und verlor mehrere Familienmitglieder. DeMar DeRozan schaffte es aus dem Elend heraus, weil er ein talentierter Sportler war. Die Erlebnisse aber ließen offenbar ihn nie los.

"Ich habe seit Jahren gegen DeMar gespielt, aber ich wäre nie darauf gekommen, dass er sich mit irgendetwas rumschlägt", schreibt Love jetzt. Erst letzte Woche hätte ihn die Offenheit seines Kollegen ermuntert, auch seine Geschichte zu erzählen. Er wolle mit seinem Vorstoß in der harten Welt der NBA für mehr Bewusstsein werben. Das Bewusstsein, dass es jeden erwischen kann. Über die Gründe für psychische Erkrankungen bei Elite-Athleten lässt sich nur spekulieren. Fakt ist, dass die NBA ein gnadenloses System betreibt, in dem Sportler bei ihren Klubs oft nur Spielfiguren auf dem Weg zum Erfolg sind.

Psychische und physische Erschöpfung

Über 82 Saisonspiele erstreckt sich die reguläre Saison, gespielt wird oft Nacht für Nacht, danach können wochenlange Playoff-Serien folgen, in denen der Druck immens ist. Zahlreiche Flüge zwischen Ost- und Westküste der USA und bis zu zehn Tage lange Auswärts-Reisen laugen selbst gestandene Spieler mitunter aus, weil sie selten zuhause bei ihren Familien sein können.

Doch auch mental müssen Basketballer in Amerika einiges aushalten. Nur 15 Profis schaffen es in den Kader der Klubs, das Gerangel um die Plätze ist groß. Hinzu kommen Zukunftssorgen. Anders als beispielsweise in europäischen Fußballligen, in denen Spieler mit ihrem Vertrag (abgesehen von Leihgeschäften) eine gewisse Standortsicherheit haben, geht es in der NBA bisweilen zu wie auf dem Viehmarkt. Spieler können theoretisch von heute auf morgen in die Wüste geschickt werden, das Wechselsystem der "Trades" erlaubt es Teambesitzern, Spieler einfach auszutauschen.

Bei Kevin Loves Cleveland Cavaliers gab es im Winter nach einer Pleiteserie einen solchen Einschnitt. Mehrere Profis mussten gehen, neue kamen - und mittendrin befand sich Love mit seinem Kopfproblem. Die Krise seines Klubs hatten Fans und Mitspieler auch ihm angelastet. Dass er einfach während des Spiels verschwand, brachte ihm deutliche Kritik ein. Bei einem Team-Meeting musste er sich anhören, die nötige Einstellung vermissen zu lassen. Dabei wusste niemand etwas von seiner Verfassung - in Köpfe kann keiner hineinschauen.

"Jeder macht etwas durch, das wir anderen nicht sehen können", berichtet Love in seinem Essay. Und vielleicht tut sich gerade wirklich etwas im Selbstverständnis der NBA. Mittlerweile bekommen sowohl DeRozan als auch Love jede Menge positive Rückmeldungen auf ihre offenen Worte. Die ist wichtig, denn sie zeigt, dass es in Ordnung ist, Schwäche zu zeigen. Dass es Therapien gibt und Möglichkeiten, Kopfprobleme zu lösen. Selbst Medikamente sind mit entsprechenden Genehmigungen ja erlaubt - und eine Karriere ist noch längst nicht vorbei, nur weil Sportler eine Erkrankung mit sich herumschleppen. DeRozan agiert trotz Depression weiterhin als Anführer seiner Raptors, Love ist derzeit verletzt, er wird aber zu den Playoffs bei den Cavaliers zurück erwartet.

Mit ihrer Prominenz haben beide möglicherweise eine Bewegung losgetreten, denn erst in der vergangenen Nacht traute sich noch ein weiterer Profi, über seine Ängste zu sprechen: Auch Kelly Oubre jr. von den Washington Wizards hat sich nun an die Öffentlichkeit gewagt: Ihn plagen trotz seiner Jugend (22) schon länger Versagensängste. Er sagt jetzt: "Ich denke Leute, die von außen auf uns schauen, verstehen das nicht, weil sie uns als Superhelden sehen, aber wir sind normale Menschen."

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