Die Aufregung war eines Weltereignisses würdig, dabei spielte die Handlung nur beim Carabao Cup, dem zweitwichtigsten Pokalwettbewerb Englands. Voriger Samstag, 18.28 Uhr: Sandro Tonali steigt aus dem Mannschaftsbus, mit ausdruckslosem Gesicht läuft er zum Stadioneingang. 19.26 Uhr: Tonali betritt den Rasen zum Aufwärmen, ein Lächeln huscht über seine Lippen, als er den Auswärtsblock erblickt. Dort strecken Fans die Trikolore Italiens in die Lüfte, ein Banner zeigt sein Gesicht im Logo einer bekannten italienischen Biermarke. Erste Spielminute: Tonali kommt an den Ball, ein Querpass mit rechts, ein Streifzug durchs Zentrum. Dritte Minute: Torschuss, knapp vorbei.
Und so ging das immer weiter, bis zu seiner Auswechslung in der 62. Minute. Das Portal The Athletic bereitete Tonalis Auftritt so minutiös auf wie den Staatsempfang eines italienischen Königs, dabei ist die Monarchie seit der Abdankung von Viktor Emanuel III. im Jahr 1946 offiziell abgeschafft. Fazit: Tonalis Bewegungen waren fluide, seine Pässe anspruchsvoll, sein Umgang mit dem Ball kultiviert.
Viele Fans der AC Mailand haben Tonali den Wechsel nach England nicht verziehen
Ach ja, ein Ergebnis hat dieses Spiel auch hervorgebracht: Nach einem 1:1 setzte sich Tonalis Verein Newcastle United im Elfmeterschießen gegen Nottingham Forest durch, es war ein raues, umkämpftes und typisch-britisches Pokalduell. Doch wen interessierte das schon? Sandro Tonali, 24, war zurück – 309 Tage, nachdem ihm vom italienischen Ligaverband eine Spielsperre aufgebrummt worden war. Eine Wettaffäre war ihm zum Verhängnis geworden, Tonali zockte um viel Geld, später gestand er sich eine Spielsucht ein. Auch sonst ging es bei ihm um enorme Summen: 80 Millionen Euro hatte Newcastle wenige Wochen vor Beginn der Wettaffäre an die AC Mailand bezahlt, Tonalis Herzensklub seit Kindestagen.
Wettskandal im italienischen Fußball:Der Fall könnte noch viel größer werden
In Italien wird gegen mindestens vier berühmte Jungfußballer wegen angeblicher Wetten auf einer illegalen Plattform ermittelt. Sandro Tonali und Nicolò Zaniolo sind kurz vor Qualifikationsspielen schon von der Nationalelf abgereist.
Daraufhin schlugen ihm mitunter Hass und Hetze entgegen, manche Milanisti haben ihm den Wechsel nicht verziehen. Für sie war Tonali eine bandiera gewesen, wie sie in Italien sagen, die personifizierte Fahne des Klubs. Ganz schön viel für einen jungen Fußballer, zumal Tonali Introvertiertheit und ein sensibler Charakter bescheinigt werden. Doch der bislang teuerste italienische Fußballer der Geschichte kann auch viel. Folglich kam Luciano Spalletti, der Trainer der italienischen Nationalmannschaft, jetzt nur schwer an ihm vorbei: Tonali wurde sogleich für die anstehenden Nations-League-Länderspiele an diesem Freitag gegen Frankreich (20.45 Uhr) und am Montag gegen Israel nominiert. Vom Hoffnungsträger zum Verbannten, und von der Verbannung sogleich auf seinen rechtmäßigen Thron: Nicht weniger erhoffen sich die Italiener von ihm, so groß erscheint gerade die Not bei der Squadra Azzurra.
Spalletti will einen offensiven Instinktfußball implementieren
„Ich habe einen schrecklichen Sommer hinter mir“, erklärte Coach Spalletti diese Woche, „meine Gedanken kreisten ums letzte Spiel der Euro.“ Das will etwas heißen bei einem, der seinen Sommer auf seinem Weingut in der Toskana verbracht haben dürfte; Spalletti ist leidenschaftlicher Winzer. Doch dieses 0:2 in Berlin gegen die Schweiz wurde in Italien anders rezipiert als eine bloße Niederlage, die ein EM-Aus im Achtelfinale besiegelte: Für viele war dieses Spiel Anlass für einen Abgesang auf den Calcio, die Alarmglocken läuten seither laut und schrill. Spalletti war nach der Schmach in die Kritik geraten, nicht zuletzt wegen seiner dozierenden öffentlichen Auftritte, in denen er wenig Reflexionsgabe durchblicken ließ. Trotzdem hat Verbandschef Gabriele Gravina ihm den Neuaufbau anvertraut. Nur: wo beginnen?
Außer Sandro Tonali hatten bei der EM einige weitere begabte Akteure gefehlt. Doch Begabung ist so eine Sache. Mittelfeldmann Nicoló Barella sowie den Verteidigern Federico Dimarco und Alessandro Bastoni, dem Dreiergespann von Meister Inter Mailand, wird höchstes internationales Format zugeschrieben – danach wird es im Kader nach allgemeiner Anschauung langsam dünn. Gianluigi Donnarumma von Paris Saint-Germain kann ein Spitzentorwart sein, allerdings nur an ausgewählten Tagen und niemals mit dem Ball am Fuß. Dann wäre da noch die wohl einzige EM-Offenbarung: Verteidiger Riccardo Calafiori, der im Sommer für 50 Millionen Euro zum FC Arsenal gewechselt ist. Hinzu kommt, mit Abstrichen, der zuletzt oft malade Angreifer Federico Chiesa.
Chiesa wurde bei Juventus Turin als verzichtbar eingestuft und verdient neuerdings beim FC Liverpool sein Geld, von Spalletti wurde er diesmal nicht in den Kader berufen. Dafür dabei: Marco Brescianini, 24, Mittelfeldmann von Frosinone Calcio. Die Gazzetta dello Sport kündigte ihn als „unseren Neuen“ an und stellte seine Biografie jener des 21-jährigen Eduardo Camavinga gegenüber, zweimaliger Champions-League-Sieger mit Real Madrid. Wenig subtile Botschaft: Gegner Frankreich kann aus einem ganz anderen Reservoir schöpfen.
„Ich werde eine neue Gruppe, ein neues Team bilden“, hat Spalletti angekündigt. Die italienischen Spieler sollen autonomer auftreten, mehr Eigeninitiative zeigen, eine Art offensiver Instinktfußball soll bis zur WM 2026 gedeihen. Tonalis Rückkehr kommt somit genau zur rechten Zeit, oder gerade noch rechtzeitig. Als junger Spieler wurde er als legitimer Thronfolger von Andrea Pirlo angesehen, dem Mittelfeldmaestro, der das Spiel taktete, es verlangsamte und beschleunigte. Tonali hat ähnliche Anlangen, nur agiert er körperlicher, dynamischer. Und obschon das Erbe Pirlos erst mal einschüchternd wirken mag: Mit seinen 24 Jahren hat Sandro Tonali ja auch schon ein bisschen was durchlebt.