Süddeutsche Zeitung

Nations League:Löw und sein plötzlicher Reichtum

Gegen die Ukraine überzeugt Leon Goretzka so sehr, dass Bundestrainer vor einem Luxusproblem steht. Er hat zu viele gute Spieler für die Mittelfeldzentrale.

Von Christof Kneer, Leipzig

Zum Glück war die virtuelle Pressekonferenz jetzt vorbei, dem Bundestrainer ersparte das ein paar heikle Fragen. Nicht auszuschließen, dass sonst noch jemand gefragt hätte, ob Jogi Löw vielleicht plane, Ilkay Gündogan künftig als Linksverteidiger aufzustellen? Oder ob es womöglich eine Option sei, Toni Kroos nach Ablauf seiner Sperre als Vorstopper zu bringen oder als Außenstürmer oder Torwart?

Wie gesagt, niemand hat das mehr gefragt, aber es fehlte wahrscheinlich nicht viel. Zuvor hatten die Reporter ja tatsächlich schon wissen wollen, was Löw mit Joshua Kimmich und Leon Goretzka vorhabe; ob er sich den einen (Kimmich) perspektivisch mal wieder als Rechtsverteidiger vorstellen könne und den anderen (Goretzka) als Außenspieler. Darauf Löw: Nein, es sei "grundsätzlich kein Gedanke mehr", Kimmich in die Abwehr zu stecken; und ja, er habe das mit Goretzka auf der Seite mal überlegt, "aber den größten Wert für uns hat er, wenn er aus der Zentrale kommt".

Der Luxus muss Luxus bleiben und darf kein Luxusproblem werden

Für den Bundestrainer waren diese Reporterfragen in doppelter Hinsicht eine gute Nachricht. Erstens ist es ja immer schön zu hören, wenn die Menschen mitfühlen und sich für einen den Kopf zerbrechen; vor allem aber - zweitens - ließ sich den Fragen entnehmen, dass den Reportern der unermessliche Reichtum auch schon aufgefallen ist, den Löw da verwalten darf. Allen, die von diesen Vermögensverhältnissen immer noch nichts mitbekommen haben, wurden sie an diesem Abend von Leon Goretzka noch mal vorgeführt: Goretzka spielte beim 3:1 gegen die Ukraine dermaßen hin- und mitreißend, dass selbstverständlich niemand auf die Idee käme, ihn wieder aus der Mannschaft zu nehmen. Das 1:1 von Leroy Sané (23.) bereitete er mittels Balleroberung, Spurt und Steilpass ebenso vor wie das 2:1 von Timo Werner (33.), bei dem Goretzka eine weltexklusive Vorlage zur Aufführung brachte, von der man noch nicht weiß, ob sie als Volleyscherenschlag oder als Scherenschlagvolley in die Lehrvideos eingehen wird.

Goretzka habe "das Spiel nach vorne angetrieben und in der Defensive gut gearbeitet", lobte Löw, er sei ein "extremer Aktivposten" gewesen, habe "ein Super-Spiel gemacht". Klar, Goretzka gehört in dieser Mannschaft also ins Mittelfeld, wer denn sonst? Und auch das war ja eine Erkenntnis dieser Nations-League-Partie, die der DFB-Elf vor dem Spiel in Spanien wieder die Tabellenführung einbrachte: dass der wuchtige Goretzka vorzüglich mit dem filigranen Ilkay Gündogan harmoniert, der seinerseits Werners 3:1 anbahnte (64.). Okay, die beiden also im Zentrum, noch Fragen?

Ja, zwei: Was ist mit Toni Kroos, der gesperrt fehlte? Und was mit Joshua Kimmich, der verletzt passen musste?

Jogi Löw muss noch viele personelle und taktische Aufgaben lösen vor und bei der EM im kommenden Sommer, aber das ist vielleicht seine wichtigste: Er muss mit einem speziellen Luxus so umgehen, dass der Luxus Luxus bleibt und kein Luxusproblem wird. Das war es ja auch, was die Reporter bei ihren Fragen umtrieb: Wie baut man eine Elf, in der Goretzka und Gündogan und Kroos und Kimmich gemeinsam Platz finden? Löw ahnt die Antwort nicht gern, aber er ahnt sie: am besten gar nicht.

Als beim DFB aus der Mitte das Chaos entsprang

Aus Deutschland ist ein Achterland geworden. Die Talentausbildung war eine Weile stark aufs Allroundertum konzentriert, und so sind hierzulande eine Menge Mittelfeldspieler gewachsen, die man oft nicht mehr trennscharf den klassischen Positionen "6" oder "10" zuordnen kann. Kimmich ist ein defensiver Sechser, der auch einen offensiver Achter spielen kann; Goretzka ist ein offensiver Achter, der auch einen defensiven Zehner oder einen sehr offensiven Sechser spielen kann; und von Gündogan und Kroos weiß man ohnehin, dass sie imstande sind, auf internationalem Topniveau Sechs-Acht-Zehn zu spielen. So flexible Spieler zu haben, ist für einen Trainer nicht so schlecht, nur eben: Sie spielen ihr flexibles Spiel halt doch alle im Zentrum, und wenn Löw sie alle da aufstellen würde, sähe das deutsche Spiel aus wie Reiner Calmund. In der Mitte würde sich alles ballen.

So eine Versuchsanordnung kann Trainer leicht zu Fehlern verführen, es ist ja ein natürlicher Reflex, beim Verfertigen einer Aufstellung einfach die Besten zu nehmen und sie dann über den Platz zu verteilen. Schon jetzt steht fest: Löw wird bei der EM der klarste Löw sein müssen, der er noch sein kann. Er wird im Mittelfeld gute Entscheidungen treffen und sie gut moderieren müssen, denn im Zentrum wird oft nicht nur übers Spiel, sondern auch übers Binnenklima entschieden.

Bei der WM 2014 haben sich Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira und Toni Kroos die Aufgaben in der Zentrale aufgrund unterschiedlicher Fitnesszustände eine Weile kollegial aufgeteilt, aber spätestens nach dem Achtelfinale gegen Algerien hat es eine Entscheidung gebraucht; Lahm ging in die Abwehr zurück. Vielleicht hätte Löw auch bei der WM 2018 irgendwann eine Entscheidung getroffen, nur blöderweise ist seine Elf vorher ausgeschieden. Das Turnier in Russland dürfte Löw als Warnung dienen: Erst setzte er auf Kroos/Khedira, dann flog Khedira aus dem Team, es spielte plötzlich Sebastian Rudy, und auch Kroos stand bis zu seinem Tor gegen Schweden im Zentrum teaminterner Debatten. Gündogan wurde mal eingewechselt, Goretzka spielte mal Rechtsaußen, Kimmich spielte Rechtsverteidiger.

Ein wildes Durcheinander war das, und von da breitete es sich aus über den ganzen Platz. Aus der Mitte entsprang das Chaos.

Löw weiß, dass es bei der EM eine gut aufgeräumte Zentrale brauchen wird, und er dürfte nichts dagegen haben, dass ihm der Abend von Leipzig die Aufgabe noch schwerer gemacht hat. Es war eine aparte Idee von Löw, den gebürtigen Innenverteidiger Robin Koch ins defensive Mittelfeld zu stellen, Löw war von ihm "sehr angetan, ich kann auch sagen: sehr begeistert". Sollte Koch, 24, sich bei Leeds United in ähnlichem Tempo weiterentwickeln wie zuletzt, dann hätte Löw noch einen weiteren Spieler gefunden, bei dem ihn die Reporter vielleicht bald fragen, wo in seiner Stammelf er ihn genau unterzubringen gedenkt.

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SZ vom 16.11.2020/sonn
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