Englands neuer Nationaltrainer Lee Carsley :Das Gegenteil von Gareth Southgate

Lesezeit: 3 Min.

Lee Carsley (links) mit Trent Alexander-Arnold. (Foto: Damien Eagers/Reuters)

Nicht korrekt, aber wagemutig: Interimscoach Lee Carsley führt die englische Nationalmannschaft zu einem 2:0 gegen Irland – aufgeregte Debatten inklusive.

Von Sven Haist, London

Lee Carsley legte gleich mal einen Fehlstart hin. Bei seinem Debüt als Interimstrainer der englischen Nationalmannschaft löste der bisherige U-21-Coach vor dem Anpfiff des Nations-League-Spiels gegen Irland einen Sturm der Entrüstung im Land aus, der beinahe an den Orkan um die uninspirierte Spielweise des Teams bei der EM in Deutschland erinnerte.

Zunächst lief Carsley auf die falsche Spielfeldseite und setzte sich auf den Platz seines Kollegen Heimir Hallgrimsson. Der Fauxpas barg die Pointe, dass der in Birmingham geborene Carsley irischer Abstammung ist – und als Nationalspieler einst 40 Einsätze für Irland absolvierte. Zudem wollte ihn Irlands Verband kürzlich für die Nationalelf verpflichten, was Carsley aber ablehnte. Ein Betreuer der Iren klopfte dem 50-Jährigen mehrmals süffisant auf die Schulter. Carsley war allerdings weniger zum Schmunzeln zumute, er wechselte sofort die Seiten. Später witzelte er immerhin, als irischer Nationalspieler „viel Zeit auf der Bank verbracht“ zu haben – weshalb er immer noch genau wisse, wo diese sich befinde.

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Nach diesem kuriosen Einstieg verzichtete Carsley dann darauf, die englische Nationalhymne mitzusingen. Das hatte er allerdings vorab schon angekündigt; er habe mit Hymnen schon immer so seine Probleme gehabt, als Spieler wie als Trainer, rechtfertigte Carsley seine Entscheidung. Zwar respektiere er Hymnen und wisse um ihre Bedeutung. Ihm gehe es aber darum, dass seine Gedanken – in den 30 Hymnensekunden – nicht vom Spiel abschweifen sollten.

Umgehend kritisierte Englands Trainerveteran Harry Redknapp in der Boulevardzeitung Sun, das Singen der Nationalhymne sei als Patriot bedeutend. Das Konkurrenzblatt Daily Mail fand sogar, der Nationaltrainerposten sei kein Job für einen Engländer, der sich weigere, „auch nur ein Lippenbekenntnis für unsere Nation“ abzugeben. Carsleys Reaktion hätte bewiesen, wo sein Herz hingehöre – auf die grüne, also die irische Insel. Das knallharte Mail-Verdikt: Verrat! Carsley müsse entlassen werden, noch vor dem Anpfiff.

Die englische Football Association (FA) hörte allerdings, wie schon unter Carsleys Vorgänger Gareth Southgate, nur bedingt hin, als die Klatschpresse lospolterte. Der Verband hielt selbstverständlich an Carsley fest, vielleicht auch, weil es für den Trainer nach diesem dissonanten Anfang nur besser werden konnte. Und genau so kam es: Englands 2:0 (2:0) gegen Irland durch Tore von Declan Rice und Jack Grealish, die ebenso irische Vorfahren haben, rief prompt gemäßigtere Töne in der Heimat hervor.

Seine Aufstellung liest sich viel forscher als die seines Vorgängers

Die Ironie lag freilich darin, dass sich Carsley am Spieltag einzig um die Attraktivität der Spielweise seiner Mannschaft gekümmert hatte – so wie es die Öffentlichkeit nach Southgates Rücktritt verlangt hatte. Southgate hatte in seiner Amtszeit jede Ungeschicklichkeit gekonnt vermieden, jedoch sahen manche Kommentatoren sein korrektes Auftreten als beispielhaft für die wenig gewagten Leistungen seines Teams an. Der erste Eindruck ist, dass es sich bei Carsley möglicherweise andersherum verhalten könnte.

Der neue Trainer trat wie bei den U-21-Junioren im Trainingsanzug auf, leitete das Aufwärmprogramm und begutachtete das Spiel häufig aus der Hocke vom Seitenrand aus. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich in erster Linie als Trainer versteht, weniger als Repräsentant des Fußball-Mutterlands. Und seine erste Personalauswahl las sich forsch: Er behielt die Grundstruktur in der Aufstellung bei, setzte aber speziell bei der zuletzt viel diskutierten Rechtsverteidigerposition andere Akzente: Erstmals seit vier Jahren stand der offensiv veranlagte Trent Alexander-Arnold vom FC Liverpool in der Startelf eines Pflichtspiels. Tatsächlich leitete Alexander-Arnold beide Tore ein, das erste mit einem scharfen Flugball über fast das gesamte Spielfeld, das zweite durch eine schnelle Kombination auf der rechten Seite. Zu viert spielten sich die Engländer sehenswert in den Strafraum durch, wo Rice den Ball letztlich auf Grealish ablegte.

Auch Grealish war nach einer Formschwäche ins Aufgebot zurückgekehrt – und überzeugte ebenso wie Alexander-Arnold. Seit Jahren sucht England nach einem Taktgeber im Mittelfeld, ein Mangel, unter dem die eigene Dominanz immer wieder gelitten hatte. Der bei Manchester City überwiegend auf den Flanken eingesetzte Grealish könnte für die Zukunft eine Option darstellen – je nachdem, wie der Trainer mit den diesmal absenten Jude Bellingham und Phil Foden plant. Der Guardian bilanzierte zum Einstand versöhnlich, Carleys Team habe „den Ball wie einen alten Freund“ behandelt.

Für die Engländer geht es in dieser Nations-League-Runde um die Rückkehr in die A-Gruppe. Als nächstes wartet Finnland im heimischen Wembley. Sollte auch dieses Spiel erfolgreich absolviert werden, dürfte dem Interimstrainer Lee Carsley bald wieder ein Match gegen Irland bevorstehen – das Rückspiel im November.

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