Frankreich in der Nations League:Mächtiger linker Fuß

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Spieler des Tages: Lucas Digne (2. v. l.) jubelt nach seinem Freistoßtreffer, der allerdings als Eigentor dem italienischen Torwart Guglielmo Vicario zugeschrieben wurde. (Foto: Luca Bruno/AP)

Außenverteidiger Lucas Digne ist im französischen Nationalteam bislang nicht groß aufgefallen – beim 3:1 in Italien ist er aber der entscheidende Mann. Und beruhigt nebenbei die Debatten um Trainer Didier Deschamps.

Von Oliver Meiler, Mailand/Paris

Mit der Renaissance im Fußball ist es so eine Sache: Die Wiedergeburt korreliert fast zwangsläufig mit dem gleichzeitigen Verwelken des Gegners. Meistens wenigstens. Wenn nun gleich zwei große französische Zeitungen, nämlich L’Équipe und Le Parisien, zur Überzeugung gelangt sind, dass die zuletzt so gescholtenen Bleus bei ihrem Sieg in der Nations League gegen Italien eine Renaissance erlebt hätten, dann muss man annehmen, dass die zuletzt viel gefeierte Wiedergeburt der Azzurri, die rinascita, ihrerseits schon wieder vorüber ist. Oder zumindest jäh suspendiert. Auch das ist eine Konstante: Es geht immer ganz schnell.

In diesem Fall brauchte es dafür nur einen linken Fuß, den linken Fuß von Lucas Digne, 31 Jahre alt, linker Außenverteidiger von Aston Villa. Bisher war dieser eher ein Schattenspieler im Ensemble von Didier Deschamps, obschon er schon seit zehn Jahren zum Kader des französischen Trainers gehört. Digne sollte im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion gar nicht spielen, doch dann war die Stammkraft auf der Position, Théo Hernández, plötzlich unpässlich. Und so kam der Ersatz zum Einsatz, und die Welt entdeckte seinen mächtigen linken Fuß.

Bei allen drei Toren der Franzosen war er prominent im Spiel. Zweimal servierte Digne den Ball zur Vollendung auf den Kopf von Adrien Rabiot, auch er ein Rückkehrer, mit einem Eckball in der zweiten Minute und mit einem indirekten Freistoß in der 65. Minute. Dazwischen, in der 33. Minute, zirkelte Digne einen Freistoß an die Latte, so nahe am Kreuz, dass Guglielmo Vicario, der italienische Torwart, nur kunstvoll herbeifliegen konnte. Der Ball prallte an den Rücken des Keepers und ging so ins Tor.

Schon wieder gibt es eine Debatte um Trainer Didier Deschamps, doch die Bilanz spricht für „DD“

Man hätte Digne das Ding zuschreiben sollen, unbedingt, es wäre verdient gewesen. Doch die Regeln sind da unerbittlich: Das erste Freistoßtor der Franzosen seit Paul Pogbas gegen Russland im März 2018 steht nun als Eigentor in den Annalen des Sports. L’Équipe, die Spieler nie sehr großherzig benotet, gab Lucas Digne für seine Gesamtleistung eine 9, Bestnote ist die 10. Digne gab gewissermaßen den neuen „Grizou“: Antoine Griezmann ist kürzlich aus der Nationalmannschaft zurückgetreten, und mit ihm sein linker Samtfuß. Digne als würdiger Erbe? Das hat wirklich niemand kommen sehen.

Zwischenzeitlich, in der 35. Minute, verkürzte der Juventino Andrea Cambiaso nach schöner Flanke von Federico Dimarco, dem linken Flügelmann der Italiener, auf 1:2. Sogar die quasispirituelle Debatte über die Wiedergeburt hing in der Luft: Renaissance oder rinascita?

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Nach dem 3:1 beendet Frankreich die Gruppenphase in dieser schwierigen Gruppe dank der besseren Tordifferenz auf dem ersten Platz – vor Italien und Belgien. Recht überraschend, muss man dazusagen. In Frankreich hatten schon wieder Diskussionen um „DD“ begonnen, um dessen stilarmes Spiel, um das Management von Kylian Mbappé, dem Superstar des Teams, den Deschamps nicht aufbot, obschon der gerne gekommen wäre. Doch immer wieder entzieht sich der Baske, im Amt seit zwölf Jahren, mit Blitzen in der Nacht aus der Fundamentalkritik. Die Bilanz spricht ohnehin für ihn: Mit Deschamps wurden die Franzosen Weltmeister in Russland, WM-Zweiter in Katar, und bei der letzten Europameisterschaft stand man immerhin im Halbfinale.

In Frankreich gibt es aber schon lange eine laute Lobby, die sich Zinédine Zidane als Sélectionneur wünscht und die bei jedem Durchhänger einen Wechsel fordert. Deschamps ist dann ganz ruhig, renoviert den Kader, trifft auch mal unpopuläre Entscheidungen. Und bekommt immer recht. Mit dem 3:1 im Klassiker sühnt er nebenbei die Schmach, die ihm Luciano Spalletti, der Trainer der Italiener, vor zwei Monaten im Parc des Princes in Paris verursacht hatte. Selbes Resultat, selbe Dominanz. Die Gazzetta dello Sport schreibt, Frankreich sei Italien nun in allen Belangen überlegen gewesen.

Die Italiener dachten gerade, sie hätten ihr Tief überwunden

Es ist lange her, dass Italien zuletzt ein Heimspiel mit zwei Toren Unterschied verloren hatte – 40 Jahre. Nach einer Serie heiterer Spiele hatte man schon gedacht, die Baisse sei überwunden, das historische Tief nach zwei verpassten Weltmeisterschaften und einer verpatzten Europameisterschaft. Es hieß, Spalletti habe den Azzurri endlich die Schemen seiner Spielphilosophie beibringen können, dieses symphonische Angreifen mit Mittelfeldspielern, die plötzlich und überfallartig ganz in der Spitze auftauchen: keine falschen Neuner, aber zusätzliche Neuner. Davide Frattesi von Inter Mailand gibt den „incursore“, den Einfallsspieler und Teilzeitstürmer, genau so, wie sich Spalletti das vorstellt. Manchmal ist es auch Frattesis Vereinskollege Nicolò Barella, zuweilen sogar Sandro Tonali von Newcastle. In Italien fand man neuerdings auch, dass die Azzurri mit Mateo Retegui von Atalanta Bergamo und Moise Kean von Fiorentina endlich wieder eine Offensive von Format haben.

Retegui? Kean? Mit Verlaub: Die Namen sind noch etwas blass. Italiens Fußball leidet gerade an einer einigermaßen mediokren Generation. Traumstifter sind keine darunter, das Selbstwertgefühl der Squadra ist fragil. Spalletti sagte nach der Niederlage im San Siro, man habe alle drei Tore nach ruhenden Bällen kassiert, wie schon gegen Belgien und Israel. Manchmal hänge alles an wenig, „an Episoden“. Die Arbeit mehrerer Monate: einfach vernichtet. Eine Lotterie. Auch die Renaissance.

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