Süddeutsche Zeitung

Nations League:Die zwei Gesichter Frankreichs

Die Mannschaft von Didier Deschamps dreht gegen Belgien einen 0:2-Rückstand spektakulär und zieht ins Nations-League-Finale ein. Dort könnte der Weltmeister Gerüchte über sein kompliziertes Innenleben verstummen lassen.

Von Javier Cáceres, Turin

Theo und Lucas Hernández sind Fleisch vom gleichen Fleische, Söhne der gleichen Mutter und eines Vaters, der sie verließ. Und sie sind physiognomisch einander ähnlich. Aber ein paar Unterschiede zwischen Theo, dem Linksverteidiger des AC Milan, und seinem seit einigen Jahren beim FC Bayern München reüssierenden Bruder, gibt es doch.

Dieser Tage sagte Theo selbst, dass er, nur mal so zum Beispiel, weit mehr unter Niederlagen leide als der Bruder, mit dem er am Donnerstag im Halbfinale der Nations League gegen Belgien in Turin erstmals zusammen in der Équipe de France spielte. "Wenn ich verliere, geht's mir schlecht. Ihm nicht so sehr, glaube ich", sagte Theo Hernández. Und so war es fast sinnbildhaft, dass er es war, der das Risiko einer Niederlage atomisierte, als er in der 90. Minute einen fulminanten Schuss vom linken Strafraumeck an den rechten Pfosten abgab, der den mit einer Spannweite von mehr als zwei Metern gesegneten belgischen Torhüter Thibaut Courtois klein aussehen ließ wie den Schweizer Yann Sommer.

Karim Benzema war der Erste, der Theo beglückwünschte und dann unter sich begrub, aus Freude darüber, dass Frankreich am Sonntag gegen Spanien im Endspiel von Mailand steht. Und auch darüber, dass diverse Nachrufe auf den Weltmeister von 2018 wieder in die Schublade wanderten. Und das hatte man zur Halbzeit im vergleichsweise spärlich gefüllten Juventus-Stadion von Turin alles andere als garantiert vorhersehen können. Nicht nur, weil Belgien da noch mit 2:0 geführt hatte. Eher schon, weil dieser Vorsprung so humorlos und trocken dahergekommen war, und Frankreich erstaunlich zahm wirkte, als sei die Mannschaft immer noch zu sehr damit beschäftigt, die auch nicht ganz neue Umstellung auf ein 3-4-3-System zu metabolisieren.

Benjamin Pavard sieht beim ersten Gegentor schlecht aus

Die Tore standen dafür exemplarisch, und sie hatten Bayern-Protagonisten als Zuschauer. Beim 1:0 der Belgier durch Yannick Carrasco (37.) zeigte sich, dass der Münchner Rechtsverteidiger Benjamin Pavard nicht mitbekommen hatte, dass Italiens Regierung gerade die Abstandsregeln abgeschafft hatte, der Atlético-Stürmer konnte aus zwölf Metern flach einschießen und Torwart Hugo Lloris auf dem falschen Fuß erwischen.

Beim 2:0 entwischte der gigantische belgische Stürmer Romelu Lukaku auf der rechten Seite Lucas Hernández und setzte den Ball mit solcher Gewalt unter die Latte, dass man an Lloris' Schläfe vermutlich Schmauchspuren hätte nachweisen können, hätte man danach gesucht. Aber es war, wie sich herausstellen sollte, das Tor ins Verderben der Belgier. "Er wusste nicht, dass er damit in der französischen Umkleide einen Wecker klingeln ließ", schrieb der Beobachter der italienischen Zeitung La Repubblica. Was die wahren Geschehnisse möglicherweise eher trifft: dass er das Stimmorgan von Frankreichs Trainer Didier Deschamps aktivierte.

Von richtigen, wahlweise deutlichen Worten berichteten später Sieger wie der in der ersten Halbzeit sporadisch, in der zweiten Halbzeit durchgängig aufregende Kylian Mbappé und Hugo Lloris. Und aus der Vergangenheit weiß man, dass Deschamps hinter verschlossenen Türen giftig und laut werden kann. Als der Trainer später selbst von der Halbzeitansprache berichtete, hörte er sich freilich anders an, weil er so klang, als habe er den Stolz seiner Mannschaft gekitzelt wie ein Geiger die Saiten einer Violine beim Pizzicato. Die Spieler seien niedergeschlagen in die Kabine gekommen, er habe sie aufgebaut und aufgefordert, nicht so tief zu stehen und aggressiver zu agieren. "Wenn man nicht auf dem Niveau ist, auf dem man sein müsste, spielen Worte eine Rolle, ja. Dafür bin ich auch da", sagte Deschamps. "Aber (der Sieg) war ihr Verdienst, von jedem einzelnen." Frankreich entpuppte sich, wie schon beim diesjährigen EM-Desaster gegen die Schweiz, als eine Mannschaft mit zwei Gesichtern. Nur eben anders.

Belgien wartet seit über 100 Jahren auf einen Titel

Gegen die Schweiz verspielte Frankreich bekanntermaßen eine 3:1-Führung und verlor das Elfmeterschießen mit 4:5. In Turin drehte Frankreich die Partie in weniger als 30 Minuten. Karim Benzema erzielte das wichtige 1:2, indem er sich in einem Pulk generischer Abwehrspieler behauptete und einschoss; dann holte Antoine Griezmann im Zweikampf mit Youri Tielemans im Strafraum über den Umweg Videoschiedsrichter einen Elfmeter heraus, den Mbappé verwandelte; am Ende schoss eben Hernández den Siegtreffer. Und traf damit die Belgier ins Herz, als sie noch gar nicht verschmerzt hatten, dass der Videoschiedsrichter beim Stand von 2:2 auch noch ein Tor von Romelu Lukaku wegen Abseits zurückgenommen hatte.

Die Belgier trachten immer noch nach ihrem ersten Titel seit den Olympischen Spielen von 1920; das Finale so nahe zu spüren, habe auf dem Team gelastet wie Blei, sagte der sichtlich angeschlagene Trainer Roberto Martínez: "Wir wollten das Spiel so rasch wie möglich beenden und haben nicht mehr das gemacht, was man machen muss." Die Strafe: das Spiel um den dritten und vierten Platz an gleicher Stätte gegen Italien, "das kein Mensch braucht", wie Torwart Courtois fauchte. Eden Hazard wird es sich mutmaßlich auf der Tribüne anschauen. Er wurde ausgewechselt, augenscheinlich verletzt.

Für die Franzosen wiederum stellt das Finale von Mailand die Chance dar, die Gerüchte über das nicht nur, aber auch wegen der Rückkehr von Benzema komplizierte Innenleben der französischen Nationalmannschaft verstummen zu lassen. "Ein Titel steht auf dem Spiel, und es ist wichtig, Titel zu gewinnen", sagte Deschamps. Gleichzeitig warnte er aber auch vor den jungen Spaniern, die sich am Mittwoch gegen Europameister Italien durchgesetzt hatte. Das könne durchaus ein Faktor sein, denn die Spanier seien auch gegen die Italiener ein Team gewesen, das "immer in der Lage war, den Gegner zu ermüden, indem sie den Ball konfiszieren", sagte Deschamps. Was man dem entgegenhalten kann? "Mit einem zweiten Ball spielen", sagte Deschamps.

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