Süddeutsche Zeitung

Nations League:Deutschland vergisst das Verteidigen

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Die deutsche Nationalmannschaft zeigt beim 3:3 gegen die Schweiz phasenweise feinen Offensivfußball. Allerdings unterlaufen der von Löw umgebauten Defensive zahlreiche Fehler.

Von Sebastian Fischer

Es sollte um ein anderes Auftreten seiner Abwehrspieler gehen an diesem Abend, aber so hatte sich Joachim Löw das vermutlich nicht gedacht. 26 Minuten waren gespielt in Köln, da stand der Bundestrainer von seinem Platz am Seitenrand auf, missmutig und nachdenklich. Auf dem Rasen sah er Antonio Rüdiger, einen seiner Verteidiger, im eigenen Tor liegen. Außerdem lag darin schon zum zweiten Mal der Ball.

Es sind nicht gerade einfache Zeiten für die deutsche Nationalmannschaft, das ist das Thema dieser Länderspielepisode, die in der vergangenen Woche mit einem 3:3 im Testspiel gegen die Türkei begann, als zahlreiche Stammspieler geschont wurden. Ein mühsames 2:1 gegen die Ukraine am Samstag, als alle Stammspieler wieder dabei waren, sollte eigentlich einen Wendepunkt darstellen. Doch die turbulente Begegnung mit der Schweiz, die mit dem nächsten 3:3 (1:2) zu Ende ging, zeigte erneut, wie schwierig das erfolgreiche Fußballspielen der Nationalelf gerade fällt, besonders in der Defensive.

"Wir lassen uns von unserem Weg nicht abbringen", sagte Kai Havertz, der seinerseits für eine teils hervorragende Offensivleistung verantwortlich und an allen drei Toren beteiligt war. Doch der 21-Jährige sagte auch: "Wir müssen in der einen oder anderen Situation erwachsener verteidigen." Joachim Löw hob die Moral der Mannschaft hervor, nach zwei Rückständen nicht zu verlieren. "Aber nach hinten haben wir dann schon auch Fehler gemacht." Löw hatte die Mannschaft auf interessante Art und Weise umgebaut.

Nach dem 1:2 gegen die Ukraine war mal wieder Kritik an seiner Aufstellung aufgekommen. Diesmal ging es dabei aber anders als in der Vorwoche nicht um Löws Rotation, sondern um Taktik, um die Dreierkette, für die sich der Bundestrainer auch gegen einen vermeintlich schwächeren Gegner in Kiew entschieden hatte. "Für unsere Spielidee spielt das System keine Rolle", sagte Löw dazu, Variabilität sei notwendig. Doch dass er sich unter anderem von einem anderen System Veränderung erhoffte, zeigte die Ausrichtung gegen die Schweiz: Diesmal verteidigte eine Viererkette, mit Rüdiger und Matthias Ginter in der Mitte, Lukas Klostermann rechts und Robin Gosens links. "Von hinten raus", sagte Löw vor dem Spiel, habe die Mannschaft gegen die Ukraine "viel zu langsam gespielt" und "keine Dynamik aufgebaut".

Der Wille, diese Dynamik in dem wegen hoher Corona-Infektionszahlen leeren Kölner Stadion zu zeigen, war gleich zu sehen, Rüdiger spielte schon in den ersten Minuten zwei mutige Pässe, um das Spiel zu beschleunigen. Doch es wirkte ein wenig so, als würden die Verteidiger vor lauter Bemühen, das Spiel von hinten dynamisch aufzubauen, das seriöse Verteidigen vergessen.

Fünf Minuten waren gespielt, da stand der Schweizer Xherdan Shaqiri frei vor dem Tor. Nach einem Fehlpass tief in der eigenen Hälfte hatte die Viererkette eifrig nach links verschoben, dabei aber Shaqiri aus den Augen verloren. Manuel Neuer hielt dessen Schuss, doch nach der anschließenden Ecke passierte den Deutschen der nächste Fehler: Sie rückten sorglos nach vorne, während der Schweizer Remo Freuler den abgewehrten Ball per Kopf wieder in den Strafraum brachte. Mario Gavranovic stand frei und traf.

Nach 20 Minuten war es dann Toni Kroos in seinem 100. Länderspiel, der mit einem Fehlpass einen Konter einleitete, den die starken Schweizer perfekt ausspielten und Freuler mit einem Chip über Neuer perfekt vollendete. Rüdiger sprang beim Versuch einer Kopfballabwehr auf der Linie daneben, das 0:2.

Löw hatte allerdings nicht nur seine Verteidigung umgestellt, sondern auch den Angriff. Zentral in der Spitze begann diesmal Timo Werner, der in Kiew noch von der Bank gekommen war. Und anstelle von Julian Draxler spielte erst zum sechsten Mal überhaupt von Beginn an für die Nationalelf Kai Havertz. Nach vorn sah das deutsche Spiel tatsächlich oft so dynamisch aus, wie Löw sich das gewünscht hatte.

Nach 29 Minuten war es Havertz, der den Ball gewann, Werner dribbelte gegen zahlreiche Schweizer in den Strafraum und traf mit einem platzierten Schuss zum Anschlusstreffer. Auch nach 55 Minuten war es Havertz, der beim frühen Stören der Schweizer den Ball gewann. Diesmal traf er selbst. Und er leitete auch das dritte deutsche Tor in der 60. Minute mit einem Pass auf Timo Werner ein, der den Ball von rechts nach innen gab, wo Serge Gnabry mit der Hacke traf.

Es war ein aufregendes Tor, so wie sich Löw das vorstellt. Es sind schließlich seine starken Offensivspieler, Gnabry und der derzeit verletzte Leroy Sané vom FC Bayern, Werner und Havertz vom FC Chelsea, an denen er sein System ausrichtet. Ungünstig war bloß, dass kurz vor dem dritten deutschen Tor nach erneuten Stellungsfehlern in der Defensive auch für die Schweiz das dritte Tor gefallen war: Haris Seferovic stand frei und nicht im Abseits, weil Deutschlands Viererkette nicht funktionierte; im Nachsetzen erzielte Gavranovic seinen zweiten Treffer.

"Beim ersten und dritten Tor haben wir schon sehr mitgeholfen", sagte Kroos. Der Jubilar, der nun als 15. deutscher Fußballer hundert Länderspiele absolviert hat, hatte noch zwei Freistoßchancen, einmal scheiterte er an der Mauer, einmal schoss er übers Tor. "Vor dem Spiel ist das nicht angebracht, aber nach dem Spiel werden wir das tun", hatte Löw im ARD-Interview über ein Ständchen für Kroos gesagt. Hinterher berichtete Löw von Gratulationen des DFB-Präsidenten Fritz Keller. Doch wie in Singstimmung sah der Bundestrainer nicht unbedingt aus.

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SZ vom 14.10.2020
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