Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft:Troppo grande

Das wilde 5:2 gegen Italien bringt dem DFB-Team zwar Erleichterung, aber keine Gewissheiten. Während Italiens Trainer den Deutschen einen großen Vorsprung attestiert, sieht Thomas Müller Nachholbedarf "in fußballschlauen Dingen".

Von Philipp Selldorf, Mönchengladbach

Die traditionelle Nachspiel-Begegnung der Torhüter musste am Dienstagabend entfallen - Gianluigi Donnarumma war zu beschäftigt, um sich kollegial mit Manuel Neuer auszutauschen. Italiens Schlussmann verbrachte die Minuten nach dem Abpfiff damit, Joshua Kimmich zu verfolgen und zu beschimpfen. Mitspieler, Funktionäre, auch ein paar deutsche Friedensbotschafter redeten beruhigend auf ihn ein, aber sein Zorn war größer als seine Bereitschaft zur Vergebung. Vorsichtshalber ging Kimmich in Deckung, als der 1,96 Meter hohe und beinahe ebenso breite Bärtige aus Castellamare di Stabia wütend mit dem Zeigefinger gegen ihn vorging.

Objektiv besehen hatte Kimmich kein Verbrechen begangen, als er mit dem letzten Ballkontakt dieser doppelt und dreifach verlängerten Saison versuchte, ein Tor zu erzielen. Allerdings hatte er geradewegs vom Anstoßkreis aus auf Donnarummas Kasten geschossen, und das fand der 23 Jahre alte Schlussmann von Paris Saint-Germain offenbar weder sportlich noch lustig: Reichte es nicht, dass Deutschland nach zwischenzeitlicher 5:0-Führung als 5:2-Sieger vom Platz gehen würde? Musste ihn Kimmich denn noch mit einem Zirkus-Tor zur Schau stellen?

Selbstverständlich ja, lautete aus Sicht des Beklagten die einzig mögliche Antwort. Es gehört zu Kimmichs Wettkämpfer-Natur, jedes Spiel bis zu dessen letzten Atemzug ernst zu nehmen und auch dann noch energisch Erfolgsmaximierung zu betreiben, wenn die Mitspieler längst Schonzeit für den schon hinreichend geschlagenen Gegner ausgerufen haben.

Das 0:4 der Engländer gegen Ungarn im Parallelspiel ließ Bundestrainer Flick staunen

Dass so etwas am Mittwoch der Fall sein würde, das hat allerdings nach der Vorgeschichte der vergangenen Spiele niemand vorausgesehen. Dem Bundestrainer Hansi Flick merkte man die Befreiung und Erleichterung an, dass er nicht wieder ein 1:1 erläutern und mühselig rechtfertigen musste, sondern einen Erfolg feiern durfte, der ihn in historischer Hinsicht noch etwas berühmter macht. Er habe eben erfahren, dass dieses 5:2 der erste Sieg (in 90 Minuten) gegen Italien bei einem Turnier gewesen sei, sagte er - "und die Nations League ist ja auch so eine kleine Turnierform".

Wenngleich eine Turnierform, die seltsame Dinge hervorbringt. Das 0:4 der Engländer gegen Ungarn im Parallelspiel ließ Flick staunen: "Es ist nicht ganz normal, was da gerade passiert." Ein Satz, der diese Länderspielreihe recht gut zusammenfasst: Die üblichen Maßstäbe eines seriösen, harten Wettbewerbs sind durch die widersinnig schnelle Abfolge der Spiele am Ende einer langen Saison verrutscht.

Bei den Italienern kommt hinzu, dass sie mit tollkühnen Experimenten ihren personellen Umbruch betreiben und dafür klassische Eigenarten ihres Calcio preisgeben: Von defensiver Ordnung und Stabilität konnte in Mönchengladbach keine Rede sein. Dass Roberto Mancini sich trotzdem zufrieden erklärte, müsste die Tifosi daheim beunruhigen. Der Unterschied zu den Deutschen sei "troppo grande", zu groß, um sich mit ihnen ebenbürtig messen zu können, sprach der Trainer mit selbstverständlicher Geste.

Man habe endlich "einen Großen" geschlagen, behauptete Timo Werner trotzdem vergnügt, und er freute sich umso mehr, weil er zwei Tore dazu beigetragen hatte und somit nach dem ersten Jahr der Ära Flick als Schützenkönig dasteht: Mit acht Treffern distanziert er Thomas Müller, der am Dienstagabend seiner persönlichen Bilanz Nummer fünf zufügte.

Ein besonderes Dankeschön muss Kapitän Manuel Neuer gelten

Diese erste Saison mit Hansi Flick liest sich wie die Erfolgsgeschichte einer großen Fußballnation: Neun Siege, vier Unentschieden. Aber ob Deutschland als Favorit zur Weltmeisterschaft fahren wird? In Wahrheit fehlt es wegen der Vielzahl an relativierenden Momenten weiterhin an belastbaren Gewissheiten. "Es war nicht alles top, aber darüber reden wir heute nicht", bilanzierte Flick die jüngsten Erfahrungen. Thomas Müller, einer der Besten am Dienstagabend, erlaubte sich dennoch ein paar mahnende Worte: "Wir haben gute Spieler, eine gute Einstellung, ein gutes Projekt - aber auch noch allerhand Defizite." Vor allem "in fußballschlauen Dingen" müsse sich das Team verbessern.

Für diese Beobachtung gab der wilde Abend am Niederrhein ein gutes Beispiel ab, und die Angreifer Timo Werner und Leroy Sané standen sozusagen als Paten der These bereit. Werner ließ schon in der ersten Minute eine Großchance aus, weil er nicht fußballschlau zu Werke ging, Sané führte bis zum Schlusspfiff eine Blitzlichtshow mit leuchtenden und finsteren Momenten, falsch und richtig, vor. Das Publikum war so freundlich, seine guten Szenen mit Sonderapplaus zu honorieren, es erwiderte damit den jederzeit spürbar guten Willen der deutschen Mannschaft. "Heute war ein kleiner Stresstest, und da muss ich einfach mal Danke an die Mannschaft sagen", schloss sich der Bundestrainer an. Die jüngsten Tage hatten schon kritischen Charakter gehabt, und Flick darf es durchaus als persönliches Kompliment nehmen, dass ihn die Spieler nicht im Stich gelassen haben.

Ein besonderes Dankeschön musste dabei dem Kapitän gelten. Nicht nur deshalb, weil Manuel Neuer im noch offenen Stadium der Partie "die Null hat stehen lassen", wie Flick sich ausdrückte, sondern weil sein Torhüter-Spiel eine Schau bot, die Top-Zuschlag rechtfertigen könnte. In der Gruppe der Spieler mit WM-Form (der pfeilgerade programmierte Linksaußen David Raum gehört definitiv auch dazu) steht der Torwart ganz vorn. Seine Liebe zum Ball macht ihn mehr denn je zum Spitzentechniker und zur dauernd frequentierten Anspielstation, seine Passquote lag bei wenigstens 101 Prozent, und einige seiner fantastischen Blitzparaden sahen aus, als wären sie im Marvel-Studio entworfen worden.

Der junge Donnarumma, der bei einigen Gegentreffern keine gute Figur machte, hätte sich lieber bei seinem 36 Jahre alten Kollegen ein paar Ratschläge abgeholt, anstatt sich über Kimmichs Anstoß-Streich zu beschweren.

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