Nationalmannschaft vor der WM:Löw auf schmalem Grat

Deutschland - Chile

Nicht zufrieden: Bundestrainer Joachim Löw beim Testspiel in Stuttgart

(Foto: dpa)

Joachim Löw kämpft um die Deutungshoheit seiner zehnjährigen Amtszeit als Bundestrainer. Was ihm nicht gefallen wird: Gegen Chile hat die DFB-Elf wieder eine plötzliche Verzagtheit befallen. Ein allzu bekanntes Muster.

Ein Kommentar von Christof Kneer

Es gibt leider noch keine Datenbank, in der die Laufkilometer von Bundestrainern erfasst werden. Joachim Löw müsste da keinen Vergleich scheuen, er würde zu den weltbesten gehören, wie die Fußballmannschaft, die er betreut. Am Mittwochabend hat er wieder jene Lauffreude ausgestrahlt, die er von seinen Spielern immer sehen will, und er hat seinen Einsatz mit eindrucksvollen Gesten untermalt.

Er hat spontane Tänze aufgeführt, er hat Arme durch die Luft geworfen und seine Jacke hinterher, und als er später in der Pressekonferenz saß, war er beeindruckend heiser.

Joachim Löw kämpft. Er kämpft um die Deutungshoheit seiner zehnjährigen Amtszeit als Bundestrainer, er möchte nicht, dass es später mal heißt: War ganz okay, der Typ, hat ganz netten Fußball spielen lassen, aber gewonnen hat er weniger als Jupp Derwall. Für alle Nachgeborenen: Derwall war ein von keinen Visionen belästigter Bundestrainer, dem niemand netten Fußball nachsagte. Aber er ist 1980 Europameister geworden.

Zu Löws Kampf gehört der Kampf gegen die Erwartungen. Das Spiel gegen Chile ist ihm da ganz recht gekommen, er hat das ebenso originelle wie hoch emotionale Spiel der Südamerikaner zur Untermauerung seiner zentralen These genutzt. Die These hat er nach dem Spiel noch mal mit belegter Stimme zusammengefasst: "Mir muss niemand weismachen, dass es auch in anderen Ländern gute Fußballer gibt", hat er gesagt. Subtext: Und zwar so gute, dass keiner davon ausgehen kann, dass Deutschland einfach so Weltmeister wird.

Es ist Löws Mission, den Leuten zu erklären, dass man nicht nur gegen Spanien oder Brasilien, sondern auch gegen Chile, Kolumbien oder Belgien verlieren kann, ohne als Versager dazustehen. Das stimmt und ist sein gutes Recht, zumal die Breite an der Spitze so dicht geworden ist, wie es sich nicht mal der Verursacher dieser Sentenz hätte träumen lassen, ein gewisser Berti Vogts, der 1996 übrigens auch mal was gewonnen hat.

Löw balanciert sein WM-Projekt auf einem schmalen Grat. Die Kunst besteht darin, die Ansprüche zu kontrollieren, ohne sein Team dabei klein zu reden. Das ist keine kleine Kunst, denn Löw hat ein Team, dessen Selbsteinschätzung Schwankungen ausgesetzt ist. Mal ist seine Elf inspiriert und konzentriert, mal neigen seine jungen Weltstars zu Lässigkeit im Dienst, mal befällt sie eine plötzliche Verzagtheit; so haben sich Löws Techniker immer schwer getan, wenn sie raffinierten Teams (Kroatien EM 2008, Serbien WM 2010), bösen Buben (Balotelli im EM-Halbfinale 2012, Ibrahimovic beim 4:4 gegen Schweden 2012) oder unberechenbaren Gegnern (Italien 2012) begegnet sind.

Es kann Löw nicht gefallen, dass die unorthodoxen Chilenen dieses Muster bestätigt haben.

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