Süddeutsche Zeitung

Marcus Sorg beim DFB:Bundestrainer für ein paar Tage

  • Weil Bundestrainer Joachim Löw krankgeschrieben ist, vertritt ihn Assistent Marcus Sorg bei den anstehenden Länderspielen.
  • Chef bleibt aber Löw, das stellt Sorg in Venlo klar.
  • Während der Spiele wird Löw als Tele-Coach fungieren.

Von Philipp Selldorf, Venlo

Wo die Geschichtsschreiber ihn eines Tages einreihen werden, das bleibt vorerst das Problem der Geschichtsschreiber, noch hat kein Kongress der DFB-Historiker darüber befunden. Formell hätten die Chronisten wohl das Recht, Marcus Sorg in der Galerie der Bundestrainer zu einem Nachfolger von Otto Nerz, Sepp Herberger oder Helmut Schön zu erheben, sie können ihm aber auch den Rang einer Fußnote zuweisen, dann bliebe nur ein Platz im Kleingedruckten. Sorg, 53, wird höchstwahrscheinlich gegen keine dieser Varianten Einspruch einlegen, am ersten Tag seiner Tätigkeit als Stellvertreter des vorübergehend krankgeschriebenen Amtsinhabers Joachim Löw, der am Montag aus der Klinik entlassen wurde, hat er keinerlei Geltungsdrang erkennen lassen, geschweige denn den Willen zur Machtergreifung offenbart.

Jogi Löw darf sich zu Hause in Freiburg entspannt von seinem Sportunfall erholen, der ihn den Besuch der EM-Qualifikationsspiele in Weißrussland am Samstag und drei Tage später gegen Estland sowie die Teilnahme am Trainingslager in Venlo/Niederlande kostet. Daheim im Krankenstand wird er stattdessen als Tele-Coach fungieren - "das letzte Wort hat der Bundestrainer", sagt Sorg, der keine Chefbefugnisse reklamiert. Er sehe sich "nicht in der Rolle des Bundestrainers", versicherte der Assistent am Montag, "der Fokus ist der gleiche wie vorher als Assistent".

Dennoch drückt dieses Intermezzo für den aus Ulm stammenden Schwaben einen beruflichen Aufstieg aus. Als er vor drei Jahren zur Nationalmannschaft kam, geschah das im Zuge einer Ergänzung des Trainer- und Betreuerstabs, die auf dem Höhepunkt ihrer Expansion unübersichtliche Ausmaße annahm. Vor und während der WM 2018 war die Gruppe der Scouts und Spezialisten so groß geworden, dass Löw vor all den Informanten und Informationen Schutz suchen musste. Die Stabsbesprechungen im berüchtigten WM-Quartier Watutinki glichen Fachtagungen.

20 Jahre Erfahrung als hauptberuflicher Fußball-Lehrer

Noch vor der Renovierung der Nationalelf stand daher nach dem verunglückten WM-Turnier der Um- und Rückbau von Löws Helferteam. Sorg, der bei der EM 2016 als Tribünenbeobachter und Halbzeitberichterstatter begonnen hatte, blieb als erster Adjutant des Bundestrainers im vertrauten Kreis, der vormalige Assistent Thomas Schneider hingegen wurde unter Aufsagen von allerlei Komplimenten zum "Chefscout" erklärt und aus der Kabine vertrieben. Schneider gilt als herzensgut und kompetent, aber auch als zögerlich: Habe man sich auf das Bestellen einer Runde Kaffee geeinigt, werfe er die Frage auf, ob es nicht doch besser Tee sein sollte.

Sorg genießt den Ruf eines zupackenden und entscheidungsfreudigen Fachmanns, er sei "ein Vollbluttrainer" mit "dem Mut zu klaren Vorstellungen", teilte Manager Oliver Bierhoff mit. Sorg selbst verweist auf 20 Jahre Erfahrung als hauptberuflicher Fußball-Lehrer, wobei die Karriere sich lange Zeit eher im Hintergrund des Volkssports abspielte. Sein prominentester Job: Als Nachfolger von Robin Dutt führte er 2011 ein halbes Jahr Aufsicht über das Erstliga-Team des SC Freiburg, womit er zwar eine Ära begründete, nämlich die Regentschaft von Christian Streich, dieses aber auf Kosten seiner eigenen Beschäftigung. In jenem halben Jahr in Freiburg kam seine Elf auf lediglich 13 Punkte, der Verein handelte ungewohnt unerbittlich, Streich übernahm und schaffte in der Rückrunde den Klassenverbleib. Zweieinhalb Jahre später wurde Sorg dafür mit der U19-Auswahl des DFB Europameister.

Sein inoffizielles Staatsamt als Stellvertreter des Bundestrainers versieht er nun an einem Schauplatz, den die deutschen Spitzenfußballer als ungewöhnlich empfinden dürften. Ihre Arbeitsbühne im Stadion des niederländischen Erstligisten VVV Venlo erfüllt alle funktionalen Bedingungen, aber vor der Tür geht es beschaulich und provinziell zu. Bevor Leon Goretzka am Montag nach dem Training mit dem Rad zum Hotel fuhr, hatte er alle Autogrammwünsche binnen einer Minute erledigt, nicht mangels Interesse, sondern mangels Interessenten. Die erste Arbeitseinheit versahen die Spieler (mit Ausnahme des just verheirateten und einen Tag freigestellten Matthias Ginter) wie üblich hinter blickdichten Zäunen, ein Geheimnis aber wurde am Montag trotzdem gelüftet.

Im Tor wird am Samstag Manuel Neuer stehen, wie der Ressortleiter Andreas Köpke wissen ließ, der spätberufene Sven Ulreich wird nicht gleich durchbefördert. Ulreichs Nominierung, die mancher Kommentator schon als Verneigung vor dem FC Bayern gegeißelt hat, erklärte Köpke im Übrigen mit der gebotenen Rücksicht auf die eigentlich vorgesehenen Ersatzleute: Alexander Nübel und Florian Müller sollen sich lieber mit der U21-Auswahl auf die Europameisterschaft vorbereiten, als in der A-Elf Aushilfsdienste zu leisten.

Bis Freitag wird sich das Nationalteam in der stillen Grenzstadt auf die Reise nach Weißrussland vorbereiten, Fragen nach der Schicklichkeit dieser pragmatischen Ortswahl "ausgerechnet" im Land eines fußballerischen Erzrivalen wies Oliver Bierhoff zurück. "Wir sehen da keine Grenzen mehr", sagte er, die Zeiten der Fußball-Kriege mit den Nachbarn seien doch längst vorbei. Marcus Sorg fügte bei dieser Gelegenheit einen Zwischenruf hinzu, der eines Bundestrainers würdig war: "Man fährt ja auch trotz Cordoba nach Österreich."

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SZ vom 04.06.2019/ebc
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