Nationalmannschaft:Neue deutsche Einheit

Northern Ireland v Germany - FIFA 2018 World Cup Qualifier

Zusammen in einem Team, das Erfolg hat: Thomas Müller (vorne) und Sandro Wagner.

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Neun Spiele, neun Siege: Die WM-Qualifikation bestätigt eine gelungenen Symbiose in der Nationalmannschaft.
  • Die Weltmeister von 2014 und die Confed-Cup-Sieger des Sommers 2017 finden im Erfolg zusammen.

Von Philipp Selldorf, Belfast

Viele der großen Rätsel in dieser Welt sind inzwischen geklärt. Wie kommt das Schiff in die Flasche? Wie vermehren sich Igel? All das weiß man. Aber was man immer noch nicht weiß: Wie ist es möglich, dass die Briten nicht frieren? Wieso können sie bei sieben Grad und böigem Schrägregen fröhlich im T-Shirt rumlaufen, während die Menschen von anderswo zu Weste, Mantel und Schal greifen und sich trotzdem erkälten?

Aus Gründen des angemessen irischen Wetters hatte der Bundestrainer einen Rollkragenpullover angezogen, bevor er am Donnerstagabend im Windsor Park seine Nationalelf zum 3:1-Sieg gegen Nordirland dirigierte. Die Einheimischen trugen kurzärmlige Trikots, während sie von An- bis Abpfiff ihre Lieder sangen, Joachim Löw dagegen sah aus wie ein intellektueller Talkmaster (im dritten Spätprogramm), und die relativ strenge Pose behielt er bei, bis er in den Teambus stieg.

"Wir wollen mit einem Sieg nachlegen"

Neun Spiele, neun Siege, nun definitiv für die WM 2018 in Russland qualifiziert - Löw hätte Anlass gehabt, seine Leute auf ein paar Guinness in den Pub zu bitten, aber nein: "Das wäre nicht professionell", wie er unter Verweis auf die nächste Aufgabe gegen Aserbaidschan erklärte: "Wir haben am Sonntag ein Spiel in Kaiserslautern vor 30 000 Fans. Da wollen wir mit einem Sieg nachlegen." Schließlich haben die Leute in Kaiserslautern schon genug Kummer mit ihrem eigenen Fußballklub.

Im Windsor Park waren es 18 104 Fans, die ausnahmslos in einen Freudentaumel gerieten, als ihre Männer dem aktuellen Weltmeister einen Treffer verpassten. Es stand 0:3, und es lief die dritte Minute der Nachspielzeit, aber das tat der patriotischen Begeisterung keinen Abbruch. Nordirland muss jetzt bei der Partie in Norwegen die Vorbereitungen treffen für die Playoffs, vielleicht gibt es nächstes Jahr bei der Russland-WM das nächste Wiedersehen nach nunmehr drei Begegnungen innerhalb von 15 Monaten, die Frage ist bloß: mit welcher deutschen Mannschaft? Sie hat in diesem Jahr umständehalber so viele unterschiedliche Gestalten angenommen, dass man gar nicht weiß, welche Individuen nun eigentlich dazugehören.

Der DFB-Präsident Reinhard Grindel glaubte, in Belfast Zeuge einer deutsch-deutschen Vereinigung geworden zu sein. Es ging aber nicht um Spieler aus West und Ost, sondern um solche, die Weltmeister sind, und solche, die sich Confed-Cup- Sieger nennen dürfen. "Das zeigt, dass wir Stück für Stück zusammenwachsen", sagte Grindel, als ob er einen heiklen gesellschaftlichen Prozess beschreiben würde. Und es ist ja auch wirklich so, dass mancher Sympathisant daheim sich fragte, ob er nun lernen müsse, Sandro Wagner zu mögen? Eine verbindliche Antwort darauf ist noch nicht abzusehen, wie ein Informant in Belfast aus erster Hand berichtete: "Da kommen ein (Leroy) Sané und ein (Lars) Stindl rein, und ein paar sind verletzt zu Hause - da braucht man sich (um den Angriff) keine Sorgen zu machen."

Wenn ein unbescheidener Mann bescheiden wird

Der Mann, der diese Geheiminformation verriet, war Sandro Wagner, ein Vertreter der Confed-Cup-Fraktion, dem die Experten bisher eher schlechte Aussichten auf die WM-Teilnahme zubilligten. In Belfast gehörte er auf seine für den Gegner stets lästige Art zu den auffälligen deutschen Erscheinungen, aber er wollte das nicht zum Wettbewerbsvorteil erheben. Die starke Konkurrenz im Sturm lässt den eigentlich unbescheidenen Mann bescheiden werden. "Wenn ich eingeladen werde, dann freue ich mich. Wenn nicht, ist das auch okay. Ich bin nicht in einem Riesenverein, wo ich Riesenansprüche stellen kann", sagte Wagner, der Hoffenheimer.

Damit schloss sich der 29-Jährige der weitverbreiteten Überzeugung an, dass man es als Angehöriger zum Beispiel des FC Bayern in der Nationalelf eher zu etwas bringt. So wie Sebastian Rudy, über den gar nicht genug Gutes gesagt werden konnte, nachdem er im 22. Einsatz für Deutschland sein erstes Tor geschossen hatte. Laut Wagner trägt Rudy die Schuld daran, dass die TSG Hoffenheim jetzt nicht mehr ganz das Niveau des Vorjahres hat, weil er im Sommer zum FC Bayern übergelaufen ist, was ihm der gebürtige Münchner Wagner aber nicht übel nimmt, im Gegenteil: "Super-Schachzug von den Bayern, freut mich für sie - ich bin ein großer Bayern-Sympathisant." Kein Wunder, dass Jérôme Boateng sich nicht nur als Rudy-Freund ("ein ganz toller Spieler"), sondern auch als Wagner-Sympathisant ("sehr guter Typ") zu erkennen gab.

Stilistische Ähnlichkeiten ergäben sich von selbst

In Rudys Einzugsgebiet wurde die Verschmelzung der Elemente besonders wirksam. Hin und wieder musste man zweimal hinsehen, wer da gerade wieder konstruktiv am Ball gewesen war: Der Confed-Cup-Stammspieler Rudy oder der WM-Held von Brasilien, Toni Kroos? Stilistische Ähnlichkeiten ergäben sich von selbst, meint der Abwehrchef Mats Hummels, "weil sie einfach zwei Super-Fußballer sind, die technisch äußerst sauber vorgehen".

Dass im Sommer 2018 in Russland eine andere DFB-Elf an den Start gehen könnte als jene von 2016 bei der EM in Frankreich, die noch vorwiegend vom 2014er-Geist von Rio bestimmt wurde, das wird nun allenthalben als verheißungsvolle Fortschrittsleistung gesehen. Der kritisch gestimmte Löw merkte jedoch an, dass es in seiner Auswahl nur einen einzigen Außenverteidiger von "hohem Niveau" gebe - und er meinte damit Joshua Kimmich und nicht den verletzten Kölner Jonas Hector (und wohl schon gar nicht dessen aktuellen Stellvertreter Marvin Plattenhardt). Man müsse schauen, die Positionen ausgewogen zu besetzen, sagte Löw und belegte seinen Anspruch mit einem Drohszenario: "Wenn ich jetzt an Argentinien denke, die haben Higuaín, Agüero, Messi, Dybala ..."

Bloß, dass diese Argentinier die Weltmeisterschaft womöglich verpassen werden - im Gegensatz zu seinem Team der neuen deutschen Einheit.

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