Nations League:Der neue Geist der Nationalelf

  • Das 2:2 gegen Holland zeigt, was sich in der deutschen Nationalelf schon geändert hat.
  • Bundestrainer Löw hat die nötigen Schritte eingeleitet - es könnte zukünftig zu Problemen mit altgedientem Personal kommen.

Von Carsten Scheele, Gelsenkirchen

Timo Werner bringt die Dinge manchmal schön auf den Punkt. Dieses 2:2 gegen die Niederlande sei "das Spiegelbild des Jahres 2018" gewesen, sagte der Stürmer am Montagabend, so in etwa konnte man das ausdrücken. 2:0 geführt bis zur 85. Minute, binnen fünf Minuten zwei Gegentore kassiert; was schiefgehen konnte, das ging auch schief. So dürfte das Jahr 2018 endgültig als Pleiten-, Pech- und Pannenjahr in die Geschichte eingehen, inklusive verpatzter WM und dem Abstieg aus der A-Gruppe der Nations League. Werners Rat, bevor er das Stadion verließ: Man müsse den ganzen Schlamassel "jetzt abhaken". Und im kommenden Jahr "alles besser machen".

An dieser Stelle muss Werner allerdings widersprochen werden. "Alles besser machen" klingt nach Großreinemachen - das ist bei der DFB-Elf gar nicht nötig. Sie sollte sogar möglichst viel beibehalten von dem, was sie zuletzt gezeigt hat. Der Gegner, die Niederlande, ist so etwas wie Europas Mannschaft der Stunde. Sie fährt nun zum Finalturnier der Nations League nach Portugal, trotzdem hatten die Holländer dem Wirbel des DFB-Teams über mindestens 80 Minuten kaum etwas entgegenzusetzen.

Nach Toren von Werner (9.) und Leroy Sané (19.) hätten noch mehr Treffer fallen müssen. Ein frühes 3:0 oder 4:0 wäre möglich gewesen, dann wäre der Gegner auch nicht mehr zurückgekommen, so überlegen spielte die deutsche Mannschaft. "Wir hatten alles im Griff", sagte Werner, mal abgesehen von den letzten fünf Minuten, als Quincy Promes (85.) und Virgil van Dijk (90.) die deutsche Elf um das ersehnte Erfolgserlebnis brachten.

Sané ist künftig nicht mehr wegzudenken

Bei vier Siegen, drei Unentschieden und sechs Niederlagen steht die Jahresbilanz nun, das Paradoxe daran ist, dass es trotzdem so scheint, als hätte der Bundestrainer mit seinem Team gerade die richtige Abbiegung genommen. Erst auf großen internen Druck hin, sozusagen auf letzter Rille, hat Joachim Löw lieb gewonnene Strukturen aufgebrochen und dem Team ein neues Tempo verpasst - und sich damit selbst den Job gerettet. In Gelsenkirchen gab es einzelne "Löw raus"-Plakate, mehr nicht, und das nach einem Jahr, in dem alle gesetzten Ziele klar verpasst wurden. Die Mehrheit scheint gespannt, was Löw aus dieser neuen Mannschaft alles rausholen kann.

Die Post-WM-Monate haben bereits ein paar unverrückbare Tatsachen geschaffen, an die vor drei Monaten nicht zu denken gewesen wäre. Die Mannschaft hat sich verändert, angefangen im Sturm, wo neben Werner künftig auch Sané nicht mehr wegzudenken sein wird.

Der Außenstürmer von Manchester City bereitete den Niederländern mit seinem Tempo eine solche Vielzahl an Problemen, dass Löw noch in zehn Jahren danach gefragt werden dürfte, wie zum Teufel er nur auf die Idee gekommen war, Sané in der letzten Nominierungsrunde aus dem WM-Kader zu verbannen. Im zweiten Länderspiel nacheinander hat Sané nun getroffen, diesmal sehr schön von der Strafraumgrenze. Als Löw gefragt wurde, ob ihm sein WM-Entscheid leidtäte, antwortete dieser lapidar, das sei wirklich "Schneeeeee von gestern". Was im Umkehrschluss bedeutet: Sané ist nun drin.

Ebenso drin ist Joshua Kimmich, der seine neue Rolle auf Sechs neben Toni Kroos mit solcher Selbstverständlichkeit ausfüllte, dass auch Kimmichs Aushilfsjob als Außenverteidiger mit "Schneeeee von gestern" gut umschrieben ist. Niklas Süle dürfte gleichfalls gute Chancen auf den Unverzichtbarkeitsstatus haben, genau wie Serge Gnabry und Thilo Kehrer, auch wenn diesem am Montagabend der entscheidende Stellungsfehler vor dem späten 2:2 unterlaufen war. Auch Nico Schulz hat gezeigt, dass er auf der Außenbahn mehr als eine wertvolle Ergänzung sein könnte. "Da wächst etwas zusammen, das hat jeder gesehen", sagte Sané über den neuen Spirit.

Fraglich, ob Boateng zurückkommt

Das alles geht, zwangsläufig, auf Kosten des arrivierten Personals. Eher zögerlich hatte Löw seinen Stamm nach dem frühen WM-Aus dezimiert, so wurde Weltmeister Sami Khedira nicht mehr nominiert, Mesut Özil wollte nicht mehr kommen, Mario Gomez war praktischerweise zurückgetreten. Ob Jérôme Boateng zurückkehren wird, ist fraglich. Nun ging der Umbau aber in rasantem Tempo voran, nur wenige Spieler der alten Achse sind noch auf ihren Posten: Torwart Neuer, Abwehrchef Mats Hummels, Mittelfeldlenker Kroos. Um sie herum haben sich neue Hierarchien gebildet.

So muss, wer künftig in der Offensive Ansprüche auf einen Stammplatz erhebt, zunächst am Trio Werner-Sané-Gnabry vorbei. Das kann einem Marco Reus noch gelingen; der Dortmunder befindet sich in exzellenter Form, wurde nur wegen einer kleineren Blessur geschont, gegen die Niederlande spät eingewechselt. Schwerer dürfte dies für Müller werden, für den Jubilar, der ausgerechnet in seinem 100. Länderspiel die Gewissheit erhalten haben dürfte, dass der Weg zum Stammplatz doch ziemlich weit ist. Es war ja leider so: So lange Müller in Gelsenkirchen auf der Bank saß, wirbelte das forsche Sturm-Trio kaum ausrechenbar über den Rasen; als Müller kam, wurde das DFB-Spiel langsamer und einfacher, weil Müller ein ganz anderer Spielertyp ist. Dummerweise fielen dann auch noch die beiden Gegentore.

Löw lobt Müllers Karriereleistung

Müller überzeugte zwar erneut als Team-Player. "Der Trend stimmt", erklärte er, und es sei ja auch egal, wer vorne drin spiele, so lange solche Halbzeiten wie die erste gegen die Niederlande dabei herauskommen. Doch auch Müller, der über all die Jahre immer gespielt hat, macht die aktuelle Situation nachdenklich. Auf die Frage, wie viele Länderspiele auf seine 100 denn noch folgen mögen, reagierte er ungewohnt dünnhäutig. "Ich hab doch kein Länderspielziel", blaffte Müller, als wisse er selbst gerade nicht, wie lange er noch Teil dieses neuen Trends sein wird.

Löw machte jedenfalls klar, dass der eingeschlagene Weg alternativlos sei. Er werde weiter auf junge Spieler setzen, und was Müller angeht, seinen treuen Gefährten, hatte er tröstende Worte parat. 2018 sei gewiss kein Thomas-Müller-Jahr gewesen, aber die Marke von 100 Länderspielen verdiene "großen Respekt". Er würdigte Müllers Karriereleistung, doch es schien, als würde die Zukunft ganz woanders ablaufen.

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