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Nationalmannschaft:Flick bastelt am neuen FC Deutschland

Beim WM-Gewinn 2014 war er noch Joachim Löws Einflüsterer. Jetzt entwirft Hansi Flick beim FC Bayern ein Gerüst, auf das man ohne weiteres eine Nationalmannschaft packen kann.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Um nachhaltig zu zeigen, welches Talent in seinem linken Fuß steckt, hatte sich Kai Havertz die finale Szene des Spiels vorbehalten. Vorher war der junge Leverkusener mitgeschwommen im Hin und Her, ein Profi, der sich raushielt aus vielem, was im Berliner Pokalfinale verhandelt wurde. Ab und an ließ er kurz erkennen, dass dieser linke Fuß, gepaart mit einer gewissen Grandezza, wirklich etwas Besonderes im Weltfußball zu werden verspricht. Nur bei den (mindestens) 100 Millionen, die Bayer Leverkusen ihm als Preisschild schon vor Corona aufs linke Schienbein klebte, und wovon der Klub auch während Corona nicht abweichen will, bedarf es weiterhin viel Fantasie, um sich auszumalen, wie sich das amortisieren soll.

Dennoch: Freunde der Wiedereinführung des sportlichen Wettbewerbs im deutschen Vereinsfußball hätte sich auch nach diesem eher dezenten Auftritt nicht wünschen wollen, dass Havertz die Seiten wechselt, dass auch er demnächst das Rot des FC Bayern trägt. Dieser Elfmeter, mit dem er das Resultat auf 2:4 korrigierte, war vom Allerfeinsten: kurzer Anlauf, strammer Schuss, platziert links oben ins Kreuzeck. Unschwer auch für den regungslosen Torwart Manuel Neuer zu erkennen: Das Werk eines Könners!

Beide, Havertz, 21, und Neuer, 34, könnten sich im Herbst wieder bei der Nationalmannschaft begegnen. Ob es wirklich dazu kommt, wird später zu Ende verhandelt. Bundestrainer Joachim Löw lädt für den 3. September (gegen Spanien) zum ersten Länderspiel des Corona-Jahres 2020 ein, aber Leverkusener wie Münchner werden im August intensiv in den Europapokal-Wettbewerben gefordert sein. Gebeten wird deshalb um verlängerten Urlaub, bevor Mitte September die Saison 2020/21 angepfiffen wird.

Für alle, die schon daran zweifelten: Jawohl, Löw, 60, gibt es noch, er sieht blendend aus, am Samstag in Berlin war er erstmals seit fünf Monaten wieder in einem Fußballstadion. Auch er habe sich an "Auflagen und Regeln" halten wollen. Aber was kann Löw schon dafür, dass er - umständehalber - dazu verurteilt war, bei fast vollem Lohnausgleich zum bestbezahlten Kurzarbeiter der Republik zu werden? Nichts, und siehe da: Das, was in seiner Abwesenheit mit den Länderspiel-Kandidaten geschah, was er nur am Fernseher verfolgte, das musste ihm gefallen.

Geflickt dank Flick? Das Wortspiel sei erlaubt.

Denn kurios ist es schon, dass jetzt ausgerechnet Hansi Flick für Löw am neuen FC Deutschland bastelt. Sicher wird nicht jeder Nationalspieler in München spielen; Timo Werner wollten sie dort nicht, er kickt demnächst mit Antonio Rüdiger beim FC Chelsea, dem Klub des Russen Roman Abramowitsch, der sich, so heißt es, zumindest schon mal nach dem Preisschild auf dem Schienbein von Kai Havertz erkundigt haben soll. Aber sonst? Flick, der 2014 beim WM-Gewinn in Brasilien noch Löws Einflüsterer als Co-Trainer war, entwirft beim FC Bayern ein Gerüst, auf das man eine Nationalmannschaft packen kann: Neuer - Süle, Kimmich, Goretzka, Gnabry, dazu Leroy Sané, der von Manchester City kommt. Dies sind sechs der elf Namen, die man sich bei der EM 2021 in Löws Startreihe vorstellen kann. Und deren Aufgabe es dann sein wird, die Schatten des Vorrunden-Aus bei der WM 2018 zu vertreiben.

Löw konnte sich in Berlin davon überzeugen, dass Flicks Gerüst steht. Besonders in der Zentrale, in der Joshua Kimmich der Chef ist, und Leon Goretzka zum Partner reift. 2018, bei der WM, war gerade dort ein Loch. Geflickt dank Flick? Das Wortspiel sei erlaubt. Denkt man sich nämlich zu diesem Gerüst die Tore von Timo Werner, Ideen von Toni Kroos und den Linksfuß eines Kai Havertz hinzu - dann ist es schon erstaunlich, wie sich die Wege von Löw und Flick wenige Jahre nach Rio erneut kreuzen könnten.

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SZ vom 06.07.2020/vit
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