Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalelf:Löw plagen die vielen Absagen

  • Joachim Löw beklagt die vielen Ausfälle vor den beiden anstehenden Länderspielen gegen Argentinien und Estland.
  • Erneut äußert er sich zum Thema Mats Hummels und gibt Einblicke in die Debatte um Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen.

Von Jonas Beckenkamp

Es gibt sie tatsächlich, die kaum für möglich gehaltene Idylle im Ruhrgebiet. Man muss nur suchen, so wie es der DFB offenbar gemacht hat, als es um die Vorbereitung auf das am Mittwoch anstehende Länderspiel gegen Argentinien ging. Gefunden haben die Späher des Verbandes (man mag vermuten: der im Pott aufgewachsene Oliver Bierhoff) das schicke Hotel l'Arrivée im Dortmunder Süden, wo am Montag prompt einige schlagzeilenträchtige Aussagen des Bundestrainers die Runde machten.

Die Nationalelf tritt gegen Argentinien (und wenige Tage später in Estland) nämlich derart dezimiert an, dass manche Beobachter arg alarmiert klangen. "Joachim Löw ruft den personellen Notstand aus", vermeldete etwa die dpa, was einigermaßen aufgeregt wirkte - auch wenn Löw eher nicht gerufen hat, sondern vielmehr ruhig sprach. Doch bei aller badischen Gelassenheit des 59-Jährigen: Die Absagen für die beiden Länderspiele sind durchaus zahlreich und schwerwiegend, dem Bundestrainer fehlt quasi eine komplette Elf.

"Das tut uns natürlich weh", sagte Löw zu jener Ausfallmisere, wie er sie in mehr als 13 Jahren Amtszeit höchst selten erlebt hat. So stehen dem Bundestrainer kaum noch Abwehrspieler zur Verfügung, nachdem mehr oder weniger fest eingeplante Akteure wie Antonio Rüdiger, Nico Schulz, Jonas Hector oder Matthias Ginter sich angeschlagen vom Dienst abgemeldet hatten. Trotz dieser Ausfälle will Löw sich aber nicht untreu werden und plötzlich Deutschlands derzeit besten Defensivmann zurückholen. An Mats Hummels habe er "jetzt nicht gedacht", erklärte Löw auf Nachfrage, "ich habe vor einigen Wochen gesagt, dass wir erst mal unseren Weg mit den jungen Spielern gehen. Es gibt jetzt keine Veranlassung, den Mats zu nominieren".

Zuletzt hatten sich etwa Hummels' Teamkollegen Marco Reus und Julian Brandt für den im Frühjahr ausgebooteten Dortmunder eingesetzt. "Natürlich ist Mats aufgrund seiner Leistung immer herzlich willkommen und würde jede Mannschaft stärker machen. Aber ich bin leider nicht in der Position, das zu entscheiden", hatte BVB-Kapitän Reus gesagt. "Ich finde, er spielt gut, er spielt sehr gut", fand auch Brandt. Löw aber hat andere Pläne, er will mit jungen, hungrigen Nachrückern den Umbruch im DFB-Team fortführen. Seine Devise scheint zu sein: koa Hummels, koa Problem. Das aber ist in der aktuellen Lage nicht leicht zu realisieren.

Für einige Selfies mit Dortmunder Autogrammjägern machte Löw noch gute Miene zur prekären Lage. Später wirkte er aber durchaus unzufrieden. Erneut kann Löw seiner erneuerten Elf nicht den gewünschten Feinschliff verpassen. Eine Wohlfühlwoche mit Probiercharakter erwartet Löw und sein Rumpf-Aufgebot nun sicherlich nicht. "Ich habe es mir ein bisschen anders vorgestellt", gestand Löw leicht genervt.

Insgesamt zehn Absagen für den Test am Mittwoch (20.45 Uhr im SZ-Liveticker) gegen Argentinien und das EM-Qualifikationsspiel vier Tage später in Tallinn musste Löw zur Ankunft in Dortmund verkraften. Neben den genannten Abwehrleuten schmerzt vor allem die Absenz von Führungskraft Toni Kroos, der sich in Madrid akute Probleme an den Adduktoren eingehandelt hat. Wegen anderer Verletzungen pausieren auch Leroy Sané, Leon Goretzka, Kevin Trapp, Julian Draxler und Thilo Kehrer. Und damit endet die Problemliste noch nicht - auch die Spieler, die angereist sind, haben teilweise Beschwerden.

Stürmer Timo Werner von RB Leipzig leidet an einem grippalen Infekt, Mittelfeldspieler Ilkay Gündogan von Manchester City hat sich eine Muskelverletzung zugezogen. Ihre Verfügbarkeit für die beiden Länderspiele ist fraglich. Löw stöhnte ordentlich, als er seinem Gefühl der Machtlosigkeit Ausdruck verlieh: "Es häuft sich. Ich war seit gestern nur am Telefon und habe schlechte Nachrichten bekommen. Wir müssen wahrscheinlich nachnominieren." Nur wen? Löw bediente sich aus dem erweiterten Bundesliga-Pool, um einen adäquaten Kader zusammenzubekommen.

Nach der Ausfallserie könnten nun direkt die erstmals ins A-Team eingeladenen Suat Serdar (Schalke 04), Robin Koch (SC Freiburg) und Nadiem Amiri (Bayer Leverkusen) in der Verantwortung stehen. Serdar verbarg seine Aufregung über die Nominierung nur schwerlich. "Ich war sehr nervös und bin es immer noch", verriet der 22-jährige Mittelfeldspieler. Unter Schalke-Trainer David Wagner hat sich der Rheinhesse mit türkischen Wurzeln überaus passabel entwickelt. Der EM-Zweite mit der U21 traf in fünf Bundesligaspielen in dieser Saison schon dreimal - doch ohne die Absagenflut wäre er wohl eher nicht so bald drangekommen bei Löw. Ähnliches gilt auch für den seit Monaten nicht mehr berücksichtigen Sebastian Rudy, der noch kurzfristig nach Dortmund mitkam.

Nun machte der Bundestrainer den Neulingen - auch der Berliner Niklas Stark und der Freiburger Luca Waldschmidt warten noch auf ihr A-Elf-Debüt - sogar Hoffnungen auf einen sofortigen Einsatz. Debüts seien "durchaus denkbar", bemerkte Löw. Serdar und Amiri hätten "ja auch schon international in ihren Vereinen und in der U21 gezeigt, dass sie dazu in der Lage sind". Generell aber hadert Löw mit der Situation, denn ihm schwebte eigentlich vor, endlich kontinuierlich zu arbeiten. Normalerweise sei es mit Blick auf die EM-Endrunde 2020 das Ziel gewesen, den Umbruch mit einem festen Mannschaftskern zu begehen. "Jetzt müssen wir immer wieder von vorne beginnen. Das ist natürlich keine gute Voraussetzung. Es ist im Moment ungewöhnlich hart für uns", folgerte Löw.

So empfindet es auch Marco Reus, der dieser Tage stammesältester Feldspieler beim DFB ist. "Es ist nicht hilfreich, wenn viele gute Spieler, die auch spielen würden, absagen. Jetzt müssen andere in die Bresche springen." Ohnehin sei die Zeit sehr kurz, um sich auf die Partie gegen die Argentinier vorzubereiten, die ohne den gesperrten Lionel Messi antreten. Löw sieht vor allem das Duell mit den Gauchos als "Weiterbildungsgeschichte für unsere jungen Spieler" - und Estland sollte in der EM-Qualifikation auch mit der zu erwartenden Notelf zu schlagen sein.

Etwas überraschend gab der Bundestrainer dann noch Einblicke in der zuletzt abgeflauten Torhüter-Debatte. So räumte Löw ein, dass Marc-André ter Stegens Enttäuschung nach dem Nordirland-Spiel (bei dem Manuel Neuer im Tor stand) darin begründet lag, dass er dem Torhüter eigentlich einen Einsatz für diese Partie in Aussicht gestellt hatte. "Im Vorfeld ist mit beiden gesprochen worden. Aber eigentlich ist nicht viel passiert", erklärte Löw etwas lapidar. Ter Stegens Verdruss sei "nicht völlig unverständlich" gekommen, "er hat natürlich damit gerechnet, er hatte auch von mir die Zusage". Dieses Versprechen wirft nun aber ein anderes Licht auf die vor allem aus München geäußerte Empörung über ter Stegens Vorgehen. Bayern-Präsident Uli Hoeneß hatte sich vehement gegen dessen Einwände ausgesprochen und suggeriert, dass Löw ter Stegen zurechtweisen solle.

Davon blieb Löw wiederum unbeeindruckt, nun sei vereinbart, dass der Barça-Keeper eben gegen Argentinien ran dürfe. Man werde das Thema noch mal intern ansprechen, sagte der Bundestrainer. Im Idyll des Ruhrgebiets gibt es also noch erhöhten Redebedarf beim DFB.

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