Fußball-EM:Wie Löw ein Höllenhund wird

EURO 2021, Nationalteam Deutschland Training 14.06.2021, Fussball, Europameisterschaft 2020, Training der Deutschen Nati

Der letzte Eindruck wird das Bild des Bundestrainers neu belichten: Bundestrainer Joachim Löw

(Foto: imago images/MIS)

Vor dem Bundestrainer liegt bei seinem letzten Turnier eine beachtliche Herausforderung: Er muss versuchen, an seinem eigenen Naturell vorbei zu coachen - bei einem erneuten Misserfolg würde man seine Ära anders bewerten.

Kommentar von Christof Kneer

Wie bedauernswert und beneidenswert es sein kann, ein Fußballtrainer zu sein, hat Joachim Löw am frühen Sonntagabend noch einmal erleben können. Da war der Kollege Franco Foda, der Coach der österreichischen Nationalelf, eine Stunde lang auf einem stabilen Weg zum Nichtsnutz. Foda sah von außen zu, wie drinnen lauter begabte Individualisten ein wenig Einzelsport trieben, und der Begabteste von ihnen, David Alaba, stand in Fodas Formation so weit hinten, dass er kaum Einfluss auf die Einzelsportler vor ihm nehmen konnte. Vermutlich haben sich die Kolumnisten der österreichischen Zeitungen, die aufgrund einer speziellen presserechtlichen Vereinbarung grundsätzlich Hans Krankl, Peter Pacult oder Schneckerl Prohaska heißen, gerade ein paar herrlich garstige Schmähkritiken einfallen lassen, als Franco Foda plötzlich zwei Stürmer einwechselte und David Alaba nach vorne schickte. Beide Stürmer schossen dann je ein Tor, eines davon eingeleitet von Alaba.

Foda habe "alles richtig gemacht", schrieb die Kronen Zeitung anderntags bemerkenswert schmähfrei. Wahrscheinlich ist der Trainer bald auf einem stabilen Weg zum Austrian Superhero.

Joachim Löw kennt das. Zwischen Bundespräsident und Fußabstreifer war er in Deutschland auch schon fast alles, 2012 hat er ein EM-Halbfinale mit einer windschiefen Aufstellung vercoacht, 2014 hat er ein WM-Finale mit messerscharfen Einwechslungen gewonnen. Beides bleibt. Aber wie man einmal darauf zurückschauen wird: Das wird sich in den nächsten Tagen (idealerweise: Wochen) entscheiden. Der letzte Eindruck wird das Bild des Bundestrainers neu belichten, er könnte die vermurkste WM 2018 wie einen Ausreißer nach unten wirken lassen oder eben auch den WM-Titel 2014 wie einen Ausreißer nach oben. Löw ist ohne Zweifel ein hoch verdienter Mann im deutschen Fußball, aber die aktuelle Europameisterschaft definiert sein Vermächtnis.

Die Herausforderung, die nun vor Jogi Löw liegt, ist von beachtlicher Dimension. Er wird etwas tun müssen, was niemandem leicht fällt: Er muss versuchen, an seinem eigenen Naturell vorbei zu coachen. Und niemand soll sagen, dass er's nicht probieren würde: Löw sagt, man müsse "alles raushauen", man müsse "leidensfähig" sein, man sei sich bewusst, "dass wir für unsere Nation alles abrufen werden, was in unserer Macht steht". Einmal hat Löw in den vergangenen Tagen vor angeblich sogar glaubwürdigen Zeugen gesagt, man wolle "durch die Hölle gehen".

Dass der distinguierte Herr Löw einmal zum Höllenhund werden würde? Das wäre so, als würde Jürgen Klopp auf einmal Werbung für Schlagerplatten machen.

Es gibt Langstrecken-Coaching und Turnier-Coaching

Fast schon rührend wirkt Löws Wille, für den kleinen Rest seiner Bundestrainerkarriere ein kampfeslustiger Pragmatiker zu sein, der Standardsituationen und Zweikämpfe üben lässt. Löw ist der Trend nicht entgangen, dem er nun zu folgen versucht: Wer auf den Weltmeister 2018 und die jüngsten Champions-League-Sieger schaut, erkennt den Unterschied. Es gibt ein Coaching für die Liga und die Langstrecke, es zielt darauf ab, Spieler zu entwickeln, Spielphilosophien zu etablieren, akademisches Denken zu erproben. Und es gibt ein Final- oder Turniercoaching, das sich knochentrocken am Anlass orientiert und für eine gewisse Zeit von allem Überkandidelten emanzipiert. So hat Klopp mit Liverpool die Champions League gewonnen, Hansi Flick mit dem FC Bayern, auch der ehemalige Tüftler Thomas Tuchel mit dem FC Chelsea - und es macht Löws Aufgabe nicht kleiner, dass er gleich im ersten Turnierspiel dem Trainer Didier Deschamps begegnet, dem Prototypen eines Pragmatikers.

Joachim Löw darf sich drauf verlassen, dass ihn an diesem Dienstagabend die besten Wünsche begleiten werden. Auf der Tribüne der Münchner Arena wird ein weiterer bekennender Pragmatiker sitzen, der neue Bundestrainer Hansi Flick.

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