Süddeutsche Zeitung

Nationalmannschaft in Südtirol:Diagnose Achsenbruch

Nie zuvor ist ein DFB-Team mit derart großen Verletzungsproblemen in ein großes Turnier gestartet. Die jüngsten Nachrichten: Philipp Lahm reist verspätet ins WM-Trainingslager, Manuel Neuer vielleicht gar nicht.

Von Klaus Hoeltzenbein

Schon wird in den Archiven gekramt. Für jeden Unfall, für jedes Ereignis, das in den Stand der Katastrophe gehoben wird, braucht es eine Vergleichsgröße. War es schon mal schlimmer? Und wenn ja, wann? Nun ist die Tatsache, dass sich eine Fußballmannschaft in Windeseile in eine Versehrten- und Verletztenelf verwandelt, noch kein Unglück von gravierender Tragweite.

Passiert dies allerdings kurz vor einer Weltmeisterschaft, die in ziemlich genau drei Wochen beginnt, bekommt der auch hierzulande mit Leidenschaft gepflegte Alarmismus schnell einen pikanten Ton. Schließlich beginnt die Nation gerade damit, sich wieder einmal Schwarz-Rot-Gold anzumalen, werden die ersten PKW mit der Bundesstandarte geflaggt, und in den Biergärten sind die Standorte der Videoleinwände für das nächtliche Public Viewing zu vermessen.

Und was tut der deutsche Torwart? Muss sich die Schulter zur Schonung in eine Schlinge legen lassen. Der Kapitän? Kündigt verletzungsbedingt die verspätete Anreise in das am Mittwoch bezogene Trainingslager in Südtirol an. Mittelfeldchef Nummer 1? Klagt über Schmerzen in der Patellasehne. Mittelfeldchef Nummer 2? Hat am Samstag ausgerechnet im Finale der Champions League den ersten Härtetest, ob das im November 2013 gerissene Kreuzband wieder hält (vorausgesetzt, er kommt bei Real Madrid zum Einsatz). Stürmer Nummer 1? Wurde erst gar nicht für die WM nominiert. Stürmer Nummer 2? Sucht nach einer von Verletzungen geprägten Saison seine Form.

Manuel Neuer, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira, Mario Gomez, Miroslav Klose - das hätte in einer idealen Fußball-Welt die zentrale Achse der DFB-Elf für die WM in Brasilien werden können. In der realen Welt aber ist es das Prominenten-Lazarett des Planeten. Und was tat Bundestrainer Joachim Löw, unmittelbar, nachdem er im Südtiroler Teamhotel eingetroffen war? Er konsultierte seinen Mannschaftsarzt. Der unterliegt bekanntlich der Schweigepflicht, und natürlich wird öffentlich nicht verraten, wie er die Situation gerade der Akut-Patienten Neuer und Lahm exakt einschätzt.

Beide Profis des FC Bayern hatten sich beim 2:0-Sieg in dem nicht unbedingt hochklassigen, aber hitzigen und kurzweiligen Pokalfinale am Samstag gegen Borussia Dortmund verletzt. Bei Lahm, der vor der Pause ausgewechselt werden musste, war zunächst nur von einem Bluterguss die Rede, der sich aber bei der Magnetresonanz-Tomografie (MRT) zu einem Kapselriss im Sprunggelenk erweiterte. Lahm soll nun mit zweitägiger Verspätung am Freitag in den Südtiroler Betrieb einsteigen.

Bei Neuer ist die Auskunft vage und damit durchaus alarmierend: Im Falle des Torwarts werde "auf Tagesbasis" entschieden, wie DFB-Teamsprecher Jens Grittner erklärte: "Aber auch da ist vorgesehen, dass er noch ins Trainingslager kommen wird." Skeptiker werden jetzt vermutlich das Wörtchen "noch" betonen.

27 Spieler hat Joachim Löw fürs Trainingslager nominiert, 23 darf er mit nach Brasilien nehmen, 23 waren am Mittwoch in St. Leonhard im Passeiertal eingetroffen. Derzeit sieht es so aus, als könne sich die Frage nach dem einen oder anderen Streichkandidaten am Ende durch das ärztliche Bulletin erledigen. Entschuldigt fehlten zunächst: Lahm, Neuer und Khedira, dessen möglichen Formtest im Champions-League-Finale - in Lissabon beim Madrider Derby Real gegen Atlético - der Bundestrainer am Samstag vom Hotelfernseher aus verfolgen wird; zudem: Per Mertesacker. In seinem Fall kam die einzige erfreulichere Botschaft aus der medizinischen Abteilung - der Abwehrchef des FC Arsenal ist gerade Vater geworden.

Generell aber lautet die Diagnose für den Gesamteindruck vom deutschen Brasilien-Kader: Achsenbruch! Nie zuvor ist eine deutsche Elf derart lädiert in die Vorbereitung auf ein großes Turnier gestartet.

Zu den zentralen Problemfällen muss auch der etwas in Vergessenheit geratene Dortmunder Ilkay Gündogan gezählt werden, der sich seit einem dreiviertel Jahr mit diversen Problemen plagt, und der derzeit wieder in Donaustauf kurt. Gündogan hätte, mit Schweinsteiger, mit Khedira, das Mittelfeld-Kommando übernehmen können. Und dennoch liegt im neuen Kader - trotz all der Maladen - vermutlich immer noch eine attraktive Lösung. Gerade in Kontrast zu jener deutschen Rumpelfuß-Ära, die erst wenige Jahre her ist, und in der die Bundestrainer ein Problem hatten, überhaupt eine technisch akzeptable erste Elf zu nominieren.

Jetzt aber klingen die Sehnsüchte von Löw ("Wenn der Titel erreicht sein sollte, wäre das ein tolles Gefühl") und Lahm ("Ich will nicht im Halbfinale ausscheiden oder nach Brasilien fahren, um die Sonne zu genießen. Wir haben ein klares Ziel") zwar hochtrabend. Aber sie werden keinen Sturm des Widerspruchs auslösen. Es sind ja noch einige Kur-Tage bis zum ersten WM-Treff am 16. Juni in Bahia mit den Portugiesen.

Nun dem Berliner Pokalfinale einen beleidigten Vorwurf zu machen, dass es die deutsche WM-Chance geschmälert habe, wäre dann doch zu verwegen. Da gab es vor großen Turnieren schon ganz andere Jux-Spiele, wonach das Wehklagen laut war. So, als Philipp Lahm kurz vor der Heim-WM 2006 nach einem 7:0 gegen den FSV Luckenwalde am Ellbogen operiert werden musste. Wenige Tage später erzielte er gegen Costa Rica das Eröffnungstor.

Und auch mit Schulterverband, dies als höchst schwacher Trost für Manuel Neuer, wurde bei einer WM schon gespielt. Franz Beckenbauers Einsatz im Halbfinale gegen Italien in Mexiko 1970 ist Legende. Allerdings: Das Spiel wurde verloren. Und Beckenbauer war alles - nur kein Torwart.

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Quelle:
SZ vom 22.05.2014/ebc
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