Süddeutsche Zeitung

Nationalmannschaft:Götze sucht den Weg zurück auf die große Bühne

Der WM-Siegtorschütze ist in den vergangenen beiden Jahren kaum vorangekommen. Jetzt will er der Welt zeigen, dass er besser ist, als die Bayern ihn zuletzt aussehen ließen.

Von Philipp Selldorf

Robert Musil hatte noch niemals von Mario Götze gehört, als er den Mann ohne Eigenschaften erfand, dennoch hat er mit der Titelgebung vor mehr als hundert Jahren auf prophetische Art einen Beitrag zur Beschreibung des Handelns und Wirkens und womöglich auch Denkens von Mario Götze bereitgestellt. Denn was wissen wir schon von Götze? Beruf (Fußballprofi), Geburtsort (Memmingen im Allgäu), Alter (23 Jahre) und gewisse Vorlieben (Leibgericht Apfelspätzle) mögen bekannt sein. Aber bei den wesentlichen Dingen versagen die Experten, und es schweigen die öffentlich zugänglichen Dossiers. Schon die elementaren Fragen finden keine befriedigende Antwort: Wo möchte Götze hingehören? Welchem Verein ist er zuzurechnen? Und wie lautet eigentlich seine Positionsbestimmung auf dem Fußballplatz?

Götze, besetzt als ständige Improvisation

Hinweise zu diesen identitätsstiftenden Merkmalen eines Fußballers sollen die kommenden Wochen geben, wobei nicht zu erwarten ist, dass Götze während der Europameisterschaft seine neue Heimat auf dem Spielfeld entdeckt. Hierzu lässt sich eindeutig mit Musil sagen: Er ist ein Fußballer mit vielen Fähigkeiten, aber ohne klare Eigenschaften. Weder erfüllt er die klassischen Kriterien, die einen Stürmer von einem Mittelfeldspieler unterscheiden, noch ist er im spezifischen Sinn ein Stratege oder Ballverteiler, und schon gar nicht ist er ein Flügelflitzer.

In Joachim Löws Nationalmannschaft wird Götze daher als ständige Improvisation besetzt, das besagt schon sein Rollentitel: die "falsche Neun". Er dient als Mittelstürmer mit den Zutaten des Mittelfeldspielers, und in dieser Funktion wird er wohl auch der deutschen Startformation beim Turnierstart am Sonntagabend gegen die Ukraine angehören. Der Bundestrainer hat festes Vertrauen in den Mann, dem er vor der Einwechslung ins WM-Finale 2014 zuraunte: "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi." Gemeint war Lionel Messi, der Star der Stars, Hauptdarsteller des Endspielgegners Argentinien - und am Schluss ein trauriger Verlierer, nachdem Götze das Traumtor zum 1:0 geschossen hatte.

Götzes Karriere ist trotz dieses Tores (nicht: wegen dieses Tores) in den vergangenen beiden Jahren kaum vorangekommen, beim FC Bayern blieb er ein besserer Reservist. Deutlich ließen ihn die Münchner wissen, dass sie ihn loswerden möchten. Die Europameisterschaft soll Götze nun einen neuen Weg weisen und Interesse beim nächsten Arbeitgeber aus der Premium-Klasse wecken. Üblicherweise vermeiden es Profis, mit einer ungeklärten Zukunft in ein großes Turnier zu gehen, aber Götze hat sich die Situation genau so ausgesucht: Borussia Dortmund, wo er als Profi aufgewachsen ist, hätte ihn zurückgenommen, der Vertrag war bereits mit Götzes Manager ausgearbeitet, doch dann sagte Götze ab. Auch dem FC Liverpool, den sein früherer Trainer Jürgen Klopp betreut, gab er einen Korb. Dafür verblüffte er die Bayern mit der Äußerung, er wolle bei ihnen bleiben.

Bayern droht wohl, ihn nicht für die Champions League zu nomieren

Damit machte er zumindest den Bayern-Feinden eine Freude, denn das ist ja das Letzte, was die Bayern anstreben: dass Götze weitere zwölf Monate sein gewaltiges Jahresgehalt (zwischen zwölf und 14 Millionen Euro) genießt, bevor er den Verein ablösefrei verlässt. Götze ist zum Politikum geworden.

Über Mario Götze werden jetzt Gerüchte verbreitet, die nicht schmeichelhaft sind, er hat neue Berater engagiert, die sich um Schadensbegrenzung bemühen. Dieses unruhige Szenario nimmt er erstaunlich gelassen, bei den Tests mit dem Nationalteam fiel er zuletzt durch Eifer und Spielfreude auf. Er will der Welt zeigen, dass er besser ist, als die Bayern ihn aussehen ließen.

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Quelle:
SZ vom 11.06.2016
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