Süddeutsche Zeitung

Matthias Ginter in Nationalelf:Das Zeug zum Abwehrchef

Dreierkette, Viererkette? Bundestrainer Joachim Löw sucht noch seine ideale Abwehrformation, eines aber ist unstrittig: Dass der leise Matthias Ginter dabei eine zentrale Rolle einnehmen wird.

Von Christof Kneer

Wenn man die Leute auf der Straße fragen würde, in welchem der berühmten Häuser der Fußballer Matthias Ginter bei der WM 2014 im Campo Bahia gewohnt hat, dann würden die meisten das vermutlich für eine Fangfrage halten. Der Matze Ginter bei der WM 2014? Weltmeister soll der geworden sein, vor sechs Jahren schon? Haha, nächste Frage!

Die richtige Antwort wäre allerdings: Matthias Ginter wohnte in Haus IV, zusammen mit Bastian Schweinsteiger (Herbergsvater), Manuel Neuer, Benedikt Höwedes, Julian Draxler und Kevin Großkreutz. Auch als sich die Spieler nach ihrer Rückkehr aus Brasilien am Brandenburger Tor feiern ließen, war Ginter dabei, zumindest gibt es Bilder, die das beweisen. Aber erinnern kann man sich an Ginter bei dieser WM höchstens so, wie Christoph Kramer sich an seine vorübergehende Finalteilnahme erinnert. Also eher nicht.

Über den Fußballer Matthias Ginter lässt sich inzwischen verlässlich sagen: Er kann alles. Er kann triumphal Weltmeister werden wie 2014, und er kann blamabel in der Vorrunde ausscheiden wie bei der WM 2018. Dass er bei diesem Turnier in Russland auch dabei war, hat man ebenfalls vergessen, was aber nicht schlimm ist. Die Spieler, die dabei waren, haben ihre Teilnahme ja selber verdrängt; so wie sie vermutlich auch die Waldmenschen verdrängt haben, die hinter dem kuriosen Quartier im noch kurioseren Watutinki zwischen den Bäumen patrouillierten, angeblich, um den DFB-Tross zu schützen.

Ginter hat Höhen und Tiefen erlebt

Wenn es stimmt, dass ein Chef schon ein bisschen was erlebt haben sollte, bevor er Chef wird, dann dürfte Ginter, 26, wahrscheinlich bald zum Vorgesetzten taugen. Er weiß, wie es ist, als Held und als Versager zur Arbeit zu gehen, und das Gute daran ist: Er hat die unterschiedlichen Aggregatszustände einigermaßen neutral verfolgen können. Er hat bei der WM 2014 in sieben Partien keine einzige Sekunde gespielt. Und 2018, als es für Deutschland nur drei Spiele gab, belief sich seine Einsatzzeit ebenfalls auf null Sekunden.

Diese kritische Anmerkung müsste in einer Bewertung über den möglichen neuen Abwehrchef also auch stehen: Über Turnier-Erfahrung auf dem Rasen verfügt der Kandidat Ginter nur, wenn man den Confed-Cup 2017 gnadenhalber mitrechnet. Für die EM 2016 wurde Ginter nicht nominiert, und bei der EM 2020 machte er auch kein Spiel, aus einem Grund allerdings, den man akzeptieren kann: Corona, Turnier verschoben. Die EM 2020 heißt zwar immer noch EM 2020, kommt aber erst 2021. Und bei dieser EM könnte Ginter dann tatsächlich das sein, was man heute nicht mehr so gerne Abwehrchef nennt.

Im modernen Fußball wird man kaum mehr Trainer oder gar Spieler finden, die sagen: Ja, das ist mein/ja, ich bin der Abwehrchef. Das hat einerseits spieltaktische Gründe, Verteidigen ist mehr denn je ein gruppendynamischer Prozess, für den es gleichberechtigte Mitarbeiter braucht. Aber es liegt andererseits auch daran, dass das zeitgenössische Spiel sich viel auf flachere Hierarchie einbildet, es soll nicht mehr den einen Typen da im Zentrum geben, der die anderen rumkommandiert.

Trotzdem, selbst mit dem modernen Fußball als geistiger Grundlage: Dem klassisch sozialisierten Zuschauer fällt es immer noch schwer, sich einen leisen Mann wie Ginter als eine Art Boss vorzustellen.

Wie still und doch steil der 26-Jährige in der Hierarchie nach oben geklettert ist, zeigt aber die tagesaktuelle DFB-Debatte: In der geht es vereinfacht gesagt darum, ob Joachim Löw seine Abwehr als Dreier- oder Viererkette anordnen soll, und vor dem Nations-League-Duell mit der Schweiz hat der Bundestrainer nun mitgeteilt, dass er bei der EM im kommenden Sommer gerne eine Mannschaft hätte, die beide Varianten beherrscht.

Unabhängig von all den Fachdebatten ist eines aber nicht strittig: Dass Ginter in jeder dieser Formationen seinen Platz finden wird, als rechter Innenverteidiger, mutmaßlich neben dem Münchner Niklas Süle.

Matthias Ginter spielt vermutlich sehr zurecht bei Borussia Mönchengladbach, seine Entwicklung verlief zuletzt ja genau wie die seines Arbeitgebers: konstant, ohne Durchbrüche, aber eben auch ohne Abstürze. "Sehr, sehr stabil" sei Ginter geworden, sagt Gladbachs Sportvorstand Max Eberl, der den Verteidiger vor drei Jahren dem BVB abkaufte - für 17 Millionen Euro, ein, wie man heute weiß, spektakulär gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. In Dortmund musste Ginter oft Rechtsverteidiger spielen, "auch deshalb", sagt Eberl, "haben wir ihn gekriegt: Weil er sich bei uns in seiner Lieblingsrolle als Innenverteidiger auf hohem Niveau weiterentwickeln wollte".

Ginter habe gelernt, "intensiver und härter zu verteidigen", sagt Eberl

Abseits der Schlagzeilen ist da jetzt ein Verteidiger herangewachsen, dem Jogi Löw vertraut. Mit 26 Jahren hat Ginter bereits 232 Bundesligaspiele absolviert, und im Moment ist er dabei, den womöglich entscheidenden Entwicklungsschritt zu machen. Er eignet sich gerade jene klassischen Fähigkeiten an, die im Vorstopperland Deutschland vorübergehend etwas in Vergessenheit geraten waren. Als Ginter das Verteidigen lernte, war es ja noch schick, körperlos die Bälle abzulaufen und wie ein kleiner Spielmacher nach vorne zu spielen; inzwischen wissen sie beim DFB, dass bei diesem Ansatz die legendären Grund- und Grätschtugenden ein wenig auf der Strecke blieben, das Jürgen-Kohler- und Karlheinz-Förster-hafte.

Ginter sei "viel robuster geworden", sagt Max Eberl nun, "unser Trainer Marco Rose will, dass die Abwehrspieler nicht abwarten, er animiert sie, aktiv in die Zweikämpfe zu gehen". Auf diese Weise habe Ginter gelernt, "intensiver und härter zu verteidigen", womit er dem idealen Rollenprofil schon recht nahe kommt. Ein großer Kümmerer ist Ginter ohnehin, eine stille Autorität, die auf alles aufpasst und - wie zuletzt gegen die Ukraine - auch mal ein Tor erzielt. Es war sein zweites Tor im DFB-Trikot, das erste haben die Fans zum "Tor des Jahres 2019" gewählt. Es war ein Tor mit der Hacke, das sich wahrscheinlich nur ein Spieler traut, dem es egal ist, ob er mal Chef einer Dreier- oder Viererkette wird.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5063850
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.10.2020/tbr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.