Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft:Ab ins Puzzlezimmer

Noch nie in seiner Amtszeit ist Bundestrainer Löw mit einem so unfertigen Gebilde in ein Turnier gestartet. Alles hängt von der Antwort auf die Frage ab: Wohin mit Joshua Kimmich?

Von Christof Kneer, Herzogenaurach

Juan Carlos Osorio grinste nicht, als er im Presseraum des Moskauer Luschniki-Stadions saß, aber er hätte es wahrscheinlich gerne getan. Man hätte ihm das allerdings als unhöflich auslegen können, er schmunzelte also lieber nach innen. Das änderte aber nichts daran, dass er diesen Satz trotzdem sagte. Es war ein Satz, der in diesem Moment noch nicht wissen konnte, wie großartig er war. Osorios Satz lautete: "Den Matchplan für dieses Spiel haben wir vor vielleicht sechs Monaten aufgestellt."

Vielleicht ist dieser Satz etwas zu lang, um als Überschrift durchzugehen, aber ästhetische Vorbehalte sollten in diesem Fall ausnahmsweise ignoriert werden. Dann muss die Spalte, in der die Überschrift steht, halt ein bisschen breiter gemacht werden, oder man muss eine kleinere Schriftgröße wählen, jedenfalls muss dieser Satz in die Titelzeile. Man kann die achtlos weggeworfene deutsche WM-Chance vom Sommer 2018 kaum besser zusammenfassen als mit diesem Satz des mexikanischen Trainers. Mit einem derart bräsigen Dünkel war die DFB-Elf unter Leitung des Trainers Jogi Löw damals nach Russland gereist, dass ihr der Rest der Welt egal war. Ja gut, dann sollen die Mexikaner halt wissen, wie man spielt, wurscht, man war schließlich Weltmeister und würde sich schon durchsetzen.

Deutschland verlor 0:1, es war der Anfang vom frühen Ende in Russland. Die Deutschen waren gemütlich eingeschlafen neben ihrem Ballbesitzspiel, und ihr Spiel war so leicht zu entziffern wie nie zuvor. Die Mexikaner stellten einfach Toni Kroos, dem einen deutschen Sechser, alle Räume zu, dem anderen deutschen Sechser, Sami Khedira, ließen sie extra ein paar Räume offen. Khedira ließ sich locken, preschte in die einladend freien Flächen, wo ihn mehrere Mexikaner in Empfang nahmen. Ganz schnell ging es dann, zack, schnappten sie Khedira den Ball weg und sausten über Deutschlands rechte Abwehrseite per Konter nach vorn. Die Seite war ja leer. Denn der Rechtsverteidiger, Joshua Kimmich, war aufgerückt, um die Khedira-Lücke zu schließen.

Im Zentrum kommen Kimmichs Fähigkeiten am besten zur Geltung

Alle, die es mit Deutschland halten, dürfen beruhigt sein: So was wird nicht mehr vorkommen. Der Auftaktgegner Frankreich wird auf keinen Fall im März schon gewusst haben, wie Jogi Löw Mitte Juni spielen wird. Der Grund: Jogi Löw weiß es ja selbst noch nicht.

Allerdings zeichnet sich ab, dass Löw eine Lehre, die er aus der verkorksten WM 2018 gezogen hat, spektakulär missachten wird. Eine Erkenntnis war, dass Joshua Kimmich ins Zentrum gehört, weil seine Fähigkeit, Spielen seinen Willen aufzudrücken, dort am besten zur Geltung kommt. Mit natürlicher und manchmal übernatürlicher Autorität herrscht Kimmich seitdem über das Reich der Mitte, in der Nationalelf und beim FC Bayern. Löw weiß das und sieht es inzwischen genauso. Aber es ist halt alles kompliziert.

Man mag dem Bundestrainer wünschen, dass sie ihm auch ein Puzzlezimmer ins EM-Quartier gebaut haben, denn noch nie in seiner Amtszeit ist er mit einem derart unfertigen Gesamtbild in eine Turnierkampagne gestartet. Selbst jetzt, eine dreiviertel Woche vor dem ersten Spiel, ist das große Puzzeln noch nicht abgeschlossen. Immer noch liegen Teile rum. Man hat das Gefühl, noch nie hing alles so sehr mit allem zusammen wie diesmal.

Nur mal so als Gedankenkette: Sollte Löw sich also - worauf alles hindeutet - für eine Dreier-Abwehrkette mit zwei zusätzlichen Außenspielern entscheiden, würde er den Franzosen zwar kompakt begegnen, aber umso dringender bräuchte er schnelle Konterspieler wie Gnabry, Sané oder Werner. Allerdings dürften die beiden Letzteren ihre Stammplätze inzwischen an Thomas Müller und Kai Havertz verloren haben. Das wiederum bedingt, dass das deutsche Spiel mittiger wird und dringend Entlastung über außen benötigt. Durch Kimmich?

Bedeuten die besten Namen automatisch auch die beste Aufstellung?

Es ist ein verführerischer, aber gefährlicher Gedanke, mit dem der Bundestrainer da spielt. Am Mittwoch war zu hören, Löw habe Kimmich bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass er nach rechts umziehen werde, aber noch glauben nicht alle im Team daran. "Am Ende ist es die Entscheidung des Trainers", hat Kimmich dazu gesagt, "wenn er mich als Rechtsverteidiger sieht und das Gefühl hat, dass ich da der Mannschaft am besten helfen kann, dann spiele ich Rechtsverteidiger." Als ihm der Vereinstrainer Hansi Flick vor dem Champions-League-Turnier im vorigen August schonend beibringen wollte, dass er, Kimmich, wegen der Verletzung des Kollegen Pavard nach rechts hinten ausweichen müsse, sagte Kimmich: "Wenn ich Trainer wäre, würde ich es genauso machen."

Der Vergleich der Aussagen lässt tief blicken. Damals war Kimmichs Reaktion also: Ja klar, Trainer, so machen wir das! Nun wäre sie eher: Hm, Coach, okay. Kein Problem. Wenn's sein muss.

Das ist das Gemeine an diesem Puzzle: Vielleicht sieht es am Ende so aus, als ob es passt, es passt aber vielleicht doch nicht. Würde Kimmich rechts spielen, könnte Löw im Zentrum zwar die tollen Toni Kroos und Ilkay Gündogan unterbringen, und er müsste rechts auch keine Notlösung mit Lukas Klostermann, Matthias Ginter oder Jonas Hofmann anordnen. Die besten Namen wären auf dem Platz. Aber wäre es auch die beste Anordnung? Das Duo Kroos/Gündogan ist - siehe das 0:6 in Spanien - nicht für seine defensive Wehrhaftigkeit bekannt, und Kimmich und Gündogan würden in diesem Konstrukt auch ein paar ihrer zahlreichen Stärken verlieren. Kimmich ist hinten rechts sehr gut, aber im Zentrum noch besser. Gündogan ist defensiv gut, aber offensiv viel, viel besser.

Jogi Löw wird sein Puzzlezimmer brauchen. Zum zweiten Spiel gegen Portugal kommt ja auch noch der verletzte Leon Goretzka zurück.

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