Die Szenerie war etwas ungewohnt. Alexandra Popp saß zwar auf einem Podium vor einer Sponsorenwand und hatte ein Mikrofon vor sich stehen. Nur war alles grün gefärbt und das Logo des Deutschen Fußball-Bundes nirgends zu sehen. Ist nicht gerade Länderspielphase? Müsste die Kapitänin nicht längst beim Nationalteam weilen? Stattdessen saß die 33-Jährige in dieser Woche entspannt in einem Raum des VfL Wolfsburg, ihrem Verein in der Bundesliga. „Ich kann nicht leugnen, dass ich es genieße, noch hier zu sein, weil es viel war in den vergangenen Wochen“, sagte Popp und lächelte. „Tatsächlich fühlt es sich nicht komisch an, was mich ein Stück weit in meiner Entscheidung bestätigt.“
Ende September hatte Popp bekannt gegeben, nach mehr als 14 Jahren aus dem Nationalteam zurückzutreten. Vom DFB hat sie zum Abschied ein Spiel geschenkt bekommen, am Montagabend in Duisburg gegen Australien, wo einst alles für sie begann. Vorher absolviert Popp, die derzeit jeden Morgen mit Schmerzen im Fuß aufsteht, wie sie erzählte, nicht das ganze Programm und fehlt, bevor es im Ruhrpott losgeht. Als sich ihre Kolleginnen am Montag in Frankfurt trafen, war sie ebenso wenig dabei wie im Flieger nach London für die Neuauflage des EM-Finals 2022 gegen England im Wembley-Stadion vor mehr als 50 000 Zuschauern an diesem Freitag (20.30 Uhr, ARD). Das Nationalteam bekommt gerade einen Vorgeschmack auf die Post-Popp-Ära.
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Überhaupt hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Als die Spielerinnen bei einer öffentlichen Einheit im Stadion am Brentanobad vor gut 2000 Zuschauern erstmals wieder gemeinsam trainierten seit ihrem Gewinn von Bronze bei den Olympischen Spielen im August, stand nicht mehr Horst Hrubesch an der Seitenlinie. Die Ansprache und die Anweisungen kamen von Christian Wück, dem neuen Bundestrainer. Und statt Britta Carlson und Thomas Nörenberg sind nun die früheren Nationalspielerinnen Maren Meinert und Saskia Bartusiak die Assistenztrainerinnen.
Wück outet sich als Verfechter der Leitlinien, die der DFB für seine Spielvision festgelegt hat
Sieben Monate hatte das Trio Zeit, sich seit der offiziellen Bekanntgabe vorzubereiten, nun muss es sich beweisen. Wück, Meinert und Bartusiak waren viel unterwegsr, teilweise stand die Beobachtung von vier Spielen an einem Wochenende auf dem Programm. Die Drei möchten sich einen genauen Überblick darüber verschaffen, wer für ihren Kader infrage kommt. Dass sie so ausgiebig Ausschau hielten, kann nicht nur als Statement für eine fundierte Recherche im Zeichen des Neuanfangs verstanden werden. Es war auch deshalb erforderlich, weil neben Anführerin Popp auch Abwehrchefin Marina Hegering und Torhüterin Merle Frohms das Team verlassen. Svenja Huth war bereits im Frühjahr zurückgetreten. Der Umbruch ist umfassend - Herausforderung und Chance zugleich.
Die beiden Länderspiele im Oktober bilden also den Auftakt der Kennenlernphase, die Wück für dieses Jahr ausgerufen hat und die noch die Partien am 29. November in der Schweiz sowie am 2. Dezember gegen Italien umfasst. Erst dann will er seinen Kader fester zurren und die vakanten Stellen besetzen. Für die Popp-Nachfolge als Spielführerin gelten Giulia Gwinn und die derzeit noch verletzte Lena Oberdorf vom FC Bayern als Kandidatinnen. Alles Entscheidungen, die grundsätzlich sitzen müssen, die aber eine zusätzliche Tragweite haben: Im Sommer 2025 steht mit der EM in der Schweiz das nächste Turnier an. Und für den zweimaligen Welt- und achtmaligen Europameister geht es weiterhin darum, sich international wieder zu etablieren, statt das Auf und Ab der vergangenen Jahre fortzusetzen.
Als Wück vor seinem Debüt nach einer Überschrift für das neue Kapitel gefragt wurde, das er maßgeblich verfassen wird, antwortete der 51-Jährige: „Alles bleibt anders.“ Um zu umschreiben, was darunter zu verstehen ist, dass sich also Dinge verändern, aber eben nicht alle, musste er etwas ausholen: „Wir wollen das, was Horst aufgebaut hat, weiterführen. Wir wollen intensiv mit der Mannschaft in Verbindung treten. Vertrauen, Kommunikation und Zutrauen sind drei Schlagwörter, die wir mit den Mädels leben wollen.“ Wie Hrubesch mit den Spielerinnen umgegangen sei, sei außergewöhnlich gewesen, von dessen Art sei er selbst aber gar nicht so weit entfernt. Dass Wück Turniere gewinnen kann, hat er jedenfalls bewiesen: Die U17-Junioren formte er im Juni 2023 erst zu Europameistern und im Dezember zu Weltmeistern.
Was das Fußballerische angeht, wurde von Anfang an deutlich, dass sich die Herangehensweise des neuen Bundestrainers bisweilen vom Vorgänger unterscheiden dürfte. Wück outete sich als Verfechter der Leitlinien, die der DFB für seine Spielvision festgelegt hat. Sie umfassen sieben Ober- und zehn Unterpunkte, und was gerade nach Hrubesch nach einem etwas bürokratischen Ansatz klingt, bietet laut Wück die beste Basis für attraktiven Fußball. „Wir wollen den Spielerinnen natürlich ein System vorgeben, aber wir werden komplett nach Leitlinien coachen und analysieren“, sagte der frühere Bundesligaprofi. Ziel sei, dass die Gegner sich nach den Deutschen richten. Je mehr Leitlinien befolgt würden, desto erfolgreicher könne man sein. Grundsätzlich heißt das wohl Ballbesitzfußball, aber so genau will sich Wück vorab noch nicht festlegen.
All diese Bausteine des Umbruchs werden nach den ersten gemeinsamen Trainingsstunden und gegen einen hochkarätigen Gegner wie England wohl kaum greifen. Das ist auch nicht der Anspruch an diese Partie. Dass Offensivspielerinnen wie Lea Schüller und Laura Freigang abreisen mussten, erschwert die Aufgabe zusätzlich. Und weil Kathrin Hendrich angeschlagen und Bibiane Schulze Solano (Kreuzbandriss) länger fehlen, ist auch die Besetzung der Abwehrkette eine Herausforderung. Die Veränderungen sollen deshalb nicht zu groß sein. Wück will Hilfestellungen geben und den Spielerinnen die Lösung von Situationen selbst überlassen. „Es wurde viel kommuniziert und viel Wert darauf gelegt, dass man sich da auf Augenhöhe bewegt und das Trainerteam im Umkehrschluss auch unsere Abläufe kennenlernt“, beschrieb Gwinn am Donnerstag die ersten gemeinsamen Tage.
Ein Vorteil der latenten Ungewissheit ist, dass auch die Gegnerinnen nicht so richtig wissen, mit wem sie es zu tun haben werden. Englands Trainerin Sarina Wiegman gestand bereits ein, Probleme bei der Vorbereitung zu haben, „denn wir wissen nicht genau, was sie vorhaben“. Was die Zukunft angeht, macht sich eine jedenfalls keine Sorgen: „Wir haben eine wahnsinnige Qualität in unserem Kader. Auch die Spielerinnen, die jetzt nominiert sind, haben extreme Qualität“, sagte Alexandra Popp: „Ich hoffe, dass mit diesem neuen Input was reingebracht wird, damit die Mädels befreit aufspielen können. Dann sehe ich da definitiv eine erfolgreiche Zukunft.“ Und sie könnte sich entspannt als Zuschauerin zurücklehnen.