DFB-Auswahl:Unbehagen im Fußballkloster

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Viel in Bewegung um ihn herum: Joachim Löw (mi.) muss Ruhe in die deutsche Nationalmannschaft bringen

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)
  • Außer Uruguays Oscar Washington Tabarez, 71, ist kein Cheftrainer bei dieser WM länger im Dienst als Bundestrainer Joachim Löw.
  • Doch vor dem Auftaktspiel der DFB-Elf gegen Mexiko fehlt ihm das beruhigende Gefühl der Routine.
  • Was ihm Unbehagen bereitet, ist diese seltsame Unruhe im deutschen WM-Quartier - das sportferne Vorspiel, das seit Wochen in seinem Fußballerkloster ausgetragen wird.

Von Philipp Selldorf, Watutinki

Der Mann, von dem seine Mitarbeiter schon berichtet hatten, dass er vor lauter Leichtigkeit nicht mehr der Schwerkraft unterworfen sei und schweben könne wie ein Geistwesen, über den mancher Beobachter mutmaßte, er sei längst vom Jogi zum Yogi mutiert - dieser vermeintlich weltentrückte Mann ist in diesen Tagen auf höchst gewöhnliche und irdische Weise angespannt. Die Leute, die ihm im DFB-Hauptquartier in der Gemeinde Watutinki zur Seite stehen, versuchen erst gar nicht, diese Ungeheuerlichkeit zu verbergen, sie geben sich nicht mal die Mühe, sie zu beschönigen. Deutschland muss also tatsächlich mit der Nachricht fertigwerden, dass Joachim Löw, 58, ein bisschen nervös ist in Erwartung des ersten Turnierspiels am Sonntag um 18 Uhr Ortszeit (17 Uhr MESZ).

Die Vorzeigepartie gegen Mexiko im Moskauer Eröffnungs- und Endspielstadion wird sein 163. Einsatz als Dirigent der Nationalmannschaft sein, außer Uruguays Oscar Washington Tabarez, 71, ist kein Cheftrainer bei dieser WM länger im Dienst als Löw. Doch das beruhigende Gefühl der Routine, des Alles-schon-mal-dagewesen, das will sich bisher nicht richtig einstellen. Die Welt erwartet von Deutschland, was der unvergleichliche Zlatan Ibrahimovic von Deutschland erwartet: "Wir wissen, dass sie es gut machen werden. Sie machen es immer gut." Aber Löw weiß zurzeit nicht, ob es so sein wird wie immer.

Löw ist nicht deshalb angespannt, weil er den Eindruck hat, die Deutschen verlangten von ihm den nächsten Titel-Triumph. Das tun sie zwar, aber das belastet ihn nicht. Der Druck, einen Titel gewinnen zu müssen, liegt diesem in vielerlei Hinsicht angenehm selbstbestimmten Mann fern. Die harten Währungen der Branche - Pokale, Erfolgszahlen, Prestigewerte - betrachtet er nicht als vorrangig wichtiges Kriterium. Als er im vorigen Jahr seinen 100. Sieg als Bundestrainer erreicht hatte, parierte er die Glückwünsche mit einem Bonmot, das wie britisches Understatement klang: "Besser als hundert Niederlagen." Aber hundert Siege seien "natürlich auch schön".

Wenn seine Landsleute jetzt von ihm erwarten, dass er sie wieder zu Weltmeistern machen soll, dann berührt ihn das emotional nicht allzu sehr. Was ihm aber Unbehagen und sogar ein Stück Unsicherheit bereitet, das ist diese seltsame Unruhe im deutschen WM-Quartier - und dabei geht es weniger um die Höhe der Grashalme auf dem Trainingsrasen (die er beanstandet hatte) oder um die vielen Wächter, die immer so grimmig gucken und den Insassen der Watutinki-Kommune jetzt schon auf den Wecker gehen. Was Löw irritiert, das ist das sportferne Vorspiel, das seit Wochen in seinem Fußballerkloster ausgetragen wird.

Der Trubel verfolgt Löw bis in die Birkenwälder

Schon bei der Vorbereitung in Südtirol hat ihn das gestört, und jetzt verfolgt ihn der Trubel bis in die Birkenwälder vor den Toren Moskaus und in die finale Lernphase vor der ersten Prüfung: Immer noch stehen Marketingpflichten zugunsten der sogenannten DFB-Partner auf dem Programm, die Fifa nervt mit ihrem Pflichtenheft, die Einwirkungen von Staats- und Verbandspolitik geben keine Ruhe und kosten Konzentration. Angela Merkel im Trainingslager an dem Tag, an dem er sich überlegen musste, welche vier Unglücklichen er anderntags nach Hause schicken sollte, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, und das Thema Ilkay Gündogan / Mesut Özil auf allen Kanälen.

Dass sein Lieblingsschüler Özil und der gleichfalls sehr geschätzte Gündogan zur Beruhigung der Lage nur bedingt beitragen wollten und ihre Kooperation enge Grenzen hatte, das hat Löw durchaus krummgenommen. Auch das kollektive Binnenverhältnis blieb deshalb während der vorigen Wochen nicht unbelastet. Die Mannschaft diskutierte über die Sache, bis der Mannschaftsrat Einigkeit und Zusammenhalt verordnete. Im weit fortgeschrittenen Stadium seines Bundestrainer-Daseins ist Löw trotz seiner Erfolge, seiner Prominenz und Popularität im Wesentlichen ganz der Alte geblieben - "menschlich genauso angenehm, wie ich ihn 2010 kennengelernt habe", wie Toni Kroos in diesen Tagen feststellte.

Die sonstigen Sorgen waren beherrschbar

Aufstellung

SZ-Grafik

Aber die Welt um ihn herum ist komplizierter geworden, das gefällt Löw nicht. Vor vier Jahren in Brasilien hat sich Deutschland auch nicht frei von Problemen dem ersten Auftritt genähert. Marco Reus, zum WM-Star ausersehen, hatte sich im letzten Testspiel verletzt, Führungskräfte wie Manuel Neuer, Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira waren nicht fit. Doch das waren klassische Sorgen aus der Welt des Sports. Sie waren irgendwie beherrschbar.

Ginge es bloß um Fußball, dann wäre die Sache jetzt relativ einfach für Löw. Die Aufstellung gegen die Mexikaner steht, sie steht im Grunde seit einem halben Jahr schon: Im Tor der wiederhergestellte Neuer, der mit seinen neuen, alten Superkräften die Welt vor einer galaktischen Bedrohung retten könnte; davor Mats Hummels und Jérôme Boateng (der "Fighter und Leader", wie Löw demonstrativ schmeichelte); an den Seiten die unersetzlichen Joshua Kimmich und Jonas Hector; im Mittelfeld Sami Khedira (laut Löws Schmeicheln auch ein "Leader") und Toni Kroos sowie in der offensiven Abteilung Thomas Müller, Mesut Özil, Julian Draxler und Timo Werner. Özil? 2010 und 2014 hat ihn Löw immer aufgestellt, in allen 14 Spielen. "Ich weiß, wie man mit dem Mesut umgeht", hat Löw in Watutinki gesagt und damit ausdrücken wollen, dass er den unübersichtlichen Streitfall um den sensiblen Spielmacher nun mit den Mitteln des Sportlehrers zu lösen gedenkt.

Alle Akteure, die sich in Watutinki im Namen der deutschen Mannschaft geäußert haben, gaben sich größte Mühe, die Affäre Erdoğan für beendet zu erklären. Sie könnten damit sogar recht behalten, wenn die Deutschen beim Turnier in Schwung kommen sollten. Weshalb sich umso angespannter die Blicke auf die Begegnung mit Mexiko richten und auf die magische Wirkung, die das erste Turnierspiel angeblich besitzt. Das erste Spiel im Turnier, das hat Franz Beckenbauer mit dieser für ihn typischen Selbstverständlichkeit gesagt, die keinerlei Zweifel an der Richtigkeit der Aussage zulässt, "das ist natürlich das wichtigste". Als er dieses Prinzip festlegte, saß er auf einer gemütlichen Bank in seinem Haus in Kitzbühel und blickte auf das 4:1 zurück, mit dem seine Mannschaft zum Start in die WM 1990 den mutmaßlich härtesten Vorrundengegner Jugoslawien besiegte. Lothar Matthäus schoss das Tor des Jahres und setzte dabei Energien frei, die ganze Städte hätten versorgen können, "so gut hat er nie zuvor gespielt", erinnerte sich Beckenbauer. Der Energieschub des Kapitäns brachte die Mannschaft bis ins Finale nach Rom.

Diesmal ist Mexiko der mutmaßliche Härtefall in der deutschen Gruppe, der richtige Gegner zur richtigen Zeit, wie alle finden. "Jeder hier drin", sagte Joshua Kimmich am Freitag in Watutinki beschwörend, "ist froh, wenn es endlich losgeht."

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