Nationalelf: Kunstrasen-Debatte:Wie einst in Rio

Die deutsche Kunstrasen-Panik erinnert seltsam an die Asche-Phobie eines gewissen Boris Becker. Wer aber von Wettbewerbsverzerrung spricht, der irrt.

Klaus Hoeltzenbein

Boris Becker war ein Mann mit besten Nerven. Ein Wettkämpfer, der an der Herausforderung wuchs, und der es mit Gegner und Publikum zugleich aufnahm. Ein guter Tennisprofi muss das können, er spielt nicht nur Einzel, er reist auch mit der Mannschaft im Davis Cup in ferne Orte. Zum Beispiel nach Rio de Janeiro, wo die Deutschen Becker, Jelen, Steeb und Zoecke nach dem legendären Viertelfinale von 1992 klagten, sie seien mit Sand vom Strand und mit Eiswürfeln aus dem Caipirinha-Glas beworfen worden.

Ihren Aufschlag habe eine wilde Tribünen-Samba gestört. Die Mannschaft verlor, obwohl Becker sein Auftaktspiel gegen Luiz Mattar gewann. Gerade Becker hatten die Störmanöver gegolten; weil sie den Leimener so fürchteten, hatten die Brasilianer ihn auf den roten Sand gelockt und eimerweise Wasser draufgeschüttet. Der Ball ist fast versunken.

Becker mochte Asche so wenig, wie die deutschen Fußballer Kunstrasen mögen. Nasser Sand behagte dem langen Becker (1,90 m) noch viel weniger, und was Michael Ballack (1,89m) auf nassem Fabrikboden anzustellen vermag, wird am Samstag live aus Moskau zu erfahren sein. Ohnehin sollte Kunstrasen leicht gewässert werden, um die Grätscher vor Verbrennungen der Haut zu schützen, zudem gibt es natürlich ein Gerücht: Da die Regenwahrscheinlichkeit niedrig sei, würden die Russen die Rasensprenger noch ein bisschen weiter aufdrehen. Auf nassem Geläuf sind kleine Spieler wie Andrej Arschawin im Vorteil, zudem hilft das Chaos einer Strafraum-Flutung der angreifenden Elf.

Giftgrün und bretteben

Das alles passiert im Rahmen des Erlaubten, allerdings hat die freie Wahl des Untergrundes durch das Heimteam nur im Tennis eine lange, gallige Tradition. Im Fußball ist eine Entscheidung zwischen Kunst und Natur vom Weltverband Fifa erst seit 2004 gestattet, und nur die Russen haben sich in ihrer Furcht vor Schnee und Eis bislang für wichtige Länderspiele auf den pflegeleichten Sechs-Zentimeter-Plastikhalm festgelegt.

Falsch liegt demnach, wer jetzt eine Wettbewerbs-Verzerrung reklamiert. Richtig aber ist, dass für jeden, der als Gast in den Luschniki-Park kommt, ein Wettbewerbs-Nachteil besteht. Bundestrainer Löw wollte vermeiden, dass sich seine Reisegruppe in Hader und Klage über den Boden verliert, dass im Voraus ein Alibi entworfen wird. Die jüngsten Nachrichten vom Experimentierfeld in Mainz aber signalisieren, dass sich seine Nationalspieler weit mehr als erwartet mit dem Untergrund befassen.

Zum Trost: In Moskau wartet ein Teppich! Giftgrün zwar, doch bretteben. Besser als jede grobe, rote Asche.

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