Süddeutsche Zeitung

"Nati"-Trainer Patrick Fischer:Wiedergeburt am Amazonas

Mit Anfang dreißig zweifelt Patrick Fischer an seiner Identität als Eishockeyprofi. Dann entdeckt er im Dschungel Südamerikas sein wahres Ich. Bei der WM will der Schweizer Nationaltrainer sein Team wieder zu einer Medaille führen.

Von Johannes Schnitzler, Helsinki

Patrick Fischers Biografie als bewegt zu beschreiben hieße, eine Achterbahn als Kinderkarussell zu deklarieren. Der Trainer der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft hat so viele Aufs und Abs hinter sich, dass er ein Buch darüber schreiben könnte. Moment: Das Buch gibt es. "Game Time: Zwei Welten. Ein Weg", lautet der etwas kryptische Titel.

Wer es liest, bekommt eine sportliche Vita, die allein mehr Kurven hat als ein Formel-1-Kurs. Profi-Debüt mit 17 Jahren in der Schweizer Nationalliga, 1999 Schweizer Meister mit dem HC Lugano, 2002 mit dem HC Davos. Bei den Olympischen Spielen 2006 in Turin fällt der Stürmer einem gewissen Wayne Gretzky auf, damals Besitzer und Chefcoach der Phoenix Coyotes. Mit 31 Jahren spielt Fischer, der "Bueb" aus einfachen Verhältnissen aus der Kleinstadt Zug, plötzlich in der großen NHL. Aber nicht lange.

Im Februar 2007 erleidet Fischer beim Spiel gegen die Florida Panthers einen Adduktorenabriss. Seine Saison ist zu Ende - und er selbst auch. Nach der OP entlässt er sich selbst aus dem Krankenhaus, geht in ein Hotel, legt sich aufs Bett und räumt die Mini-Bar leer. Genauso fühlt er sich: "Ich war einfach leer." Selbst zum Rücktritt fehlt ihm die Energie.

Dann, nach seinem Rücktritt, durchlebt er eine Art zweite Pubertät

In Phoenix sagen ihm die Verantwortlichen durch die Blume, dass sie keine Verwendung mehr für ihn haben. Fischer nimmt ein Millionen-Angebot aus Russland an, löst seinen Vertrag nach nur fünf Spielen auf und kehrt heim zu seinem Nachwuchsverein EV Zug. Aber in Florida ist nicht nur ein Muskel kaputtgegangen. In der Schweiz, wo Eishockey zur Prime Time live im Free-TV läuft, könnte er in Deutschland unvorstellbare 500 000 Euro netto pro Saison verdienen. Noch drei, vier Jahre lang. Trotzdem tritt Fischer 2009 mit 33 Jahren vom Profi-Eishockey zurück. Und sein Leben nimmt die nächste Kehrtwende.

Der Sunnyboy, der sich als feierlustigen, aber auch an sich selbst zweifelnden Teenager beschreibt, durchlebt eine Art zweite Pubertät. Mit Mitte dreißig sucht er nach seiner eigentlichen Identität. Er findet sie am Amazonas, im Urwald Süd- und Mittelamerikas. Mit seinem Bruder lebt Fischer wochenlang in primitivsten Verhältnissen bei den Shipibo, baut Holzhütten, schläft auf dem Boden, hört in den Dschungel und in sich hinein. Mit Lakota-Sioux reitet er durch die Weiten South Dakotas. Und spürt, dass er mehr tun will für diese Welt als Gummischeiben in ein Kunststoffnetz zu schießen. Nicht alle verstehen das. Manche unterstellen Fischer, "Häuptling Hockey" sei bei der Spurensuche nach sich selbst auf einen esoterischen Trip geraten.

In Peru und Costa Rica hat er mit seinem Bruder mehrere Umweltprojekte angestoßen

Seit Dezember 2016 ist Patrick Fischer, 46, Chefcoach der Schweizer "Nati". 2018 gewannen sie WM-Silber. Die Erwartungen sind seitdem steil gestiegen, und Fischer tut nichts, um sie zu dämpfen. Bei der WM in Helsinki hat er nun den vermutlich talentiertesten Kader seiner Amtszeit beisammen mit sieben NHL-Spielern. "Wir haben sehr viel Skill hier", sagt er, eine junge, talentierte Mannschaft, die "aber auch hart" spielen könne. Italien (5:2) und Dänemark (6:0) haben diese Härte schon zu spüren bekommen, wobei sie zum Auftakt sogar noch zu verspielt agierten. "Gegen Italien hatten wir 35 A-Chancen", sagt Fischer, sie hätten aber zu viel "ummikügelet".

Fischer weiß, dass er polarisiert. Nach dem Aus im Viertelfinale bei den Olympischen Spielen in Peking ("das haben wir irgendwie verhauen") stellten ihn einige Kritiker infrage, nun erwarten sie wieder eine Medaille von ihm, mindestens. "Ich freue mich, dass etwas von uns erwartet wird", sagt Fischer, "es wäre doch schlecht, wenn sie uns nichts zutrauen würden." Am letzten Spieltag der Gruppe A wird es zum Duell mit Deutschland kommen, womöglich geht es dann im Dreikampf mit Kanada um den Gruppensieg. "Die Deutschen haben uns zuletzt ein paar mühsame Niederlagen beigebracht", sagt Fischer, bei Olympia 2018, bei der WM im vergangenen Jahr. "Das wird wieder eine enge Kiste." Aber Patrick Fischer weiß jetzt, wohin er kann, wenn es ihm zu eng wird. Wer ihm bei der WM in Helsinki begegnet, trifft einen entspannten Mittvierziger, Typ Elder Surfer, der in Interviews mühelos zwischen Englisch, Französisch, Schwyzerdütsch, Italienisch und Hochdeutsch wechselt. In Peru und Costa Rica hat er mit seinem Bruder Land gekauft und mehrere Umweltprojekte angestoßen. "Ich bin öfter dort", sagt er, "ich brauche das". Patrick Fischer kennt jetzt seinen Weg.

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