Naomi Osaka:Finger auf den Lippen

Die Japanerin ist zu einer stillen, aber wirkungsvollen Kämpferin gegen Polizeigewalt und Rassismus geworden.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Wer mal ganz allein auf dem Tennisplatz im Arthur Ashe Stadium war - nachts um drei, weil dann sonst keiner mehr da ist -, der weiß, wie groß diese Arena wirklich ist, und wie klein sie einen machen kann. Zuschauer sorgen für Lärm, klar, sie sorgen aber auch für Intimität; ein leeres Stadion kann ein beängstigender Ort sein. Als Naomi Osaka (Japan) das Halbfinale bei den US Open 7:6 (1), 3:6, 6:3 gegen Jennifer Brady (USA) gewonnen hatte, gab es keinen Jubelschrei, keine Siegerpose. Sie sah kurz hinauf zu den weitgehend leeren Tribünen, dann lief sie lächelnd zum Netz und verneigte sich vor ihrer Gegnerin. Als wollte sie sich kleiner machen.

Die lauteste Person in einem Raum, so heißt es bisweilen, sei die schwächste. Wenn das stimmt, dann ist Osaka gerade eine der stärksten Personen der Welt. Sie ist in der Tennisblase von New York derart gewachsen, dass selbst die größte Arena zu klein wirkt für sie, und das Erstaunliche daran ist, dass sie sich, im Gegensatz zu vielen Profisportlern, lieber kleiner macht, als sie ist. Wer sie mal abseits des Tennisplatzes erlebt hat, auf einer Soiree in Los Angeles zum Beispiel, der dürfte bemerkt haben, dass sie eine selbstbewusste und schüchterne Frau ist. Ja, das geht, auch wenn das viele nicht glauben wollen.

Sportler sollen eine Marke sein heutzutage. Serena Williams (USA), die das zweite Halbfinale 6:1, 3:6, 3:6 gegen Viktoria Asarenka (Belarus) verlor, lebt das seit Jahren vor. Aus dem "Mädchen mit Tennisschläger und Traum" (Williams über Williams, 2000) ist die Kämpferin gegen Rassismus und Sexismus geworden, die "eine Inspiration wie Muhammad Ali" (Williams, 2014) sein möchte - und nun die "tennisspielende Mami" (Williams, 2020). Dieses Schärfen des Profils dient auch den Einnahmen, insofern ist die Marke, zu der Osaka zuletzt wurde, eine besondere, weil es eben nicht um Osaka geht.

Naomi Osaka: Maske als Geste für die Opfer: Naomi Osaka Foto:

Maske als Geste für die Opfer: Naomi Osaka Foto:

(Foto: Frank Franklin II/AP)

Es begann beim Turnier vor den US Open, das ebenfalls in Flushing Meadows ausgetragen wurde. Osaka wollte da nicht zum Halbfinale antreten, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren. Nach der NBA-Franchise Milwaukee Bucks war sie die zweite, die verzichtete; später wurde der komplette US-Profisport an diesem Tag abgesagt. Osakas Stimme hatte Gewicht, und das lag auch an dem Mann, den sie nach dem Halbfinale auf der leeren Tribüne anlächelte: Ihrem Freund, dem Rapper Cordae, er trug ein T-Shirt, auf dem übersetzt stand: "Überall in der Kultur leiden dunklere Leute am meisten - warum?"

Während der coronabedingten Pause nahmen einige Tennisspieler an Turnieren teil oder feierten in Strandklubs. Was Osaka tat: Sie fuhr mit Cordae, dessen Texte oft gesellschaftliche Probleme behandeln, nach Minneapolis, wo wenige Wochen davor der Afroamerikaner George Floyd von hellhäutigen Polizisten getötet worden war. Naomi Osaka informierte sich und sie protestierte, ohne dabei besonders aufzufallen (Cordae wurde bei einer Demonstration im Juli nach dem Tod der Afroamerikanerin Breonna Taylor verhaftet). Die lauten Töne sind ihre Sache nicht, was in einer Welt, in der viele plärren, mehr Aufmerksamkeit erregt als der nächste Schreihals.

Das zeigt sich auch auf dem Platz: Sie kann aufgrund ihrer Beweglichkeit Ballwechsel geduldig gestalten und erst spät dominieren. Sie ist, wie Bruce Lee mal den idealen Sportler beschrieben hat, wie Wasser: Sie umspült erst, und dann zerstört sie, mit einer krachenden Rückhand die Linie lang oder einem Vorhand-Cross in erstaunlichem Winkel. Danach gibt es aber kein theatralisches "Come ooooon!", das einen oft glauben lässt, der Wortschatz von Tennisprofis auf dem Platz bestünde aus diesen beiden Worten. Man kann eine Gegnerin auch einschüchtern, indem man nach einem grandiosen Schlag nicht brüllt und hüpft, sondern schweigend über den Platz schlendert, als wäre es normal, was gerade passiert ist - was dem Gegner signalisiert, dass noch mehr davon kommt.

Naomi Osaka: Gegnerin im US-Open-Finale: Viktoria Asarenka.

Gegnerin im US-Open-Finale: Viktoria Asarenka.

(Foto: Seth Wenig/AP)

Osaka, 22, spielte sich souverän durchs Turnier, auch über ihren Aufschlag, der nun wirklich kein Wasser ist, sondern eher ein Feuerball; für ihre Botschaften wählte sie eine leise Form. Auf schwarzer Maske trug sie jeweils einen Namen eines Opfers von Rassismus und Polizeigewalt, schon nach der ersten Partie sagte sie: "Ich habe sieben dabei, falls ich ins Finale komme." Das hat sie geschafft, wichtiger jedoch: Sie hat die Leute erreicht, die Bilder von ihr mit Maske wurden millionenfach im Internet geteilt. Nach dem Viertelfinale gegen Shelby Rogers wurde Osaka von Angehörigen der Opfer überrascht, die ihr dankten. Osaka sagte nichts dazu, sie weinte.

Es kann einen Sportler tragen, wenn er bemerkt, dass seine Leistungen nicht nur dem egoistischen Streben nach Erfolg dienen, sondern mehr bedeuten. Keine Frage: Osaka ist auch eine Marke für sich, bei den US Open trug sie auch Shirts mit der unbescheidenen Aufschrift "Naomi Osaka". Sie sollte das Gesicht der Olympischen Spiele in Tokio werden, die wegen Corona verschoben wurden. Es gibt deshalb zahlreiche Reklamefilme mit ihr, doch sind auch diese leiser, vorsichtiger. In einem werden die stereotypen Fragen aneinandergereiht, die ihr gestellt werden: Als was sie sich denn nun fühlen würde - angesichts dessen, dass Mutter Tamaki Japanerin ist, Vater Leonard Francois aus Haiti stammt und sie in den USA aufgewachsen ist. Am Ende ist Osaka zu sehen, sie legt den Finger auf die Lippen: "Schsch" - während unten eingeblendet wird: "Verändere nicht dich, verändere die Welt."

Sie hat die Welt ein wenig verändert in den vergangenen Wochen, und wie sie sich selbst sieht, das ist in einem anderen Film zu sehen und zu hören, in einer etwas längeren Rede: "Nur weil ich jung bin, heißt es nicht, dass ich keine Erfahrung habe. Nur weil ich bescheiden bin, heißt es nicht, dass ich nicht selbstbewusst bin. Nur weil ich ruhig bin, heißt es nicht, dass ich keinen Einfluss habe. Nur weil ich ernst bin, heißt es nicht, dass ich keinen Sinn für Humor habe. Und nur weil ich nett bin - lass' dich nicht in die Irre führen. Du kannst versuchen, mich in eine Schublade zu stecken, aber du wirst nicht bestimmen, wer ich bin. Ich bestimme durch Taten, wer ich bin." Der Film endet mit einem Hinweis auf Bruce Lee: "Ich kümmere mich nicht um all den Lärm, sondern bewege mich immer weiter." Wie Wasser.

Sie trifft nun nicht auf Williams, und sie dürfte froh sein - weniger aus Sportgründen als deshalb, weil alles größer gemacht worden wäre. Vom Finale 2018, das Osaka auch deshalb gewann, weil Williams sich im Streit mit dem Schiedsrichter als Opfer von Rassismus und Sexismus inszenierte, bis zur großen Chance für Williams, ihren 24. Grand-Slam-Titel zu gewinnen. Gegen Asarenka wird es nur ein Tennisspiel - freilich in der größten Arena dieses Sports.

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