Süddeutsche Zeitung

Jugendfußball:"Wir müssen für die Nachwuchsspieler wieder Probleme schaffen"

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Von Matthias Schmid, Sindelfingen

Als Thomas Hitzlsperger im Alter von 18 Jahren den Bauernhof seiner Eltern im oberbayerischen Forstinning verließ, tauchte er im Birminghamer Stadtteil Aston in einer ihm bisher unbekannten Welt wieder auf. Bei dem damaligen Premier-League-Klub war alles neu für das jüngste von sieben Kindern, rau war der Umgang untereinander, "es wurde viel geflucht", erinnert sich Hitzlsperger, der damals schon erreicht hatte, was vielen Heranwachsenden ein Leben lang verwehrt bleibt: Er kickte in der Jugend des FC Bayern. Aber: "Zu Aston Villa zu gehen, war die beste Entscheidung meines Lebens."

Weit weg von zu Hause wuchs er zu einem selbständig handelnden und denkenden Menschen heran, der nebenbei seinen Traum vom Fußballprofi Wirklichkeit werden ließ und Erfolge feierte.

Hitzlsperger, 36, sitzt vor ein paar Tagen zurückgelehnt auf einer Couch im Sindelfinger Glaspalast. Er blättert im Programmheft des Junior-Cups, einem der angesehensten Hallenfußballturniere für U 19-Teams in Europa. Die Entwicklung von Nachwuchsfußballern hat er nach seiner Karriere als Fußballprofi zu seinem zweiten Beruf gemacht, er leitet das Nachwuchsleistungszentrum des VfB Stuttgart. Man spürt im Gespräch schnell, dass das Thema ihn bewegt.

"Wir müssen für die Nachwuchsspieler wieder Probleme schaffen", sagt Hitzlsperger. Dem früheren Nationalspieler missfällt, wie den talentierten Spielern schon früh jede Entscheidung abgenommen wird. Sie müssten sich um nichts mehr kümmern. Widerstände? Werden alle abgebaut. Aus Angst, dass der Hochbegabte zum nächsten Klub weiterzieht. "Aber wenn dann auf dem Platz plötzlich Schwierigkeiten auftreten, finden viele keine Lösungen mehr, weil sie es nicht gewöhnt sind, selbständig zu handeln", sagt Hitzlsperger.

Er will das ändern. Er will die Spieler wieder aus ihrer Komfortzone holen. Aber er weiß, dass das ein komplizierter Prozess ist. Er kann die Fußballwelt mit den verschiedenen Strömungen nicht neu erfinden, er kann aber verhindern, dass sich schon Junioren-Mannschaften mit Fünferkette dem Fußballspielen verweigern. "Der Ausbildungsgedanke geht in Deutschland mehr und mehr verloren", hat Hitzlsperger festgestellt.

In Stuttgart versucht er deshalb in der Nachwuchsförderung behutsam neue Wege zu gehen. Das fängt damit an, dass er hierarchisches Denken abschaffen will. U 15-Trainer schauen ehrfürchtig auf zu Hitzlsperger und trauen sich kaum etwas zu sagen. "Ich möchte, dass sie auch ihre Gedanken einbringen." Er will im Klub einen Wettbewerb um die besten und innovativsten Ideen schaffen. Ihm geht es nicht in erster Linie darum, möglichst viele Spiele und Titel zu gewinnen. Er hat das große Bild im Blick. "Ziel muss sein, dass wir möglichst viele Spieler fürs Profiteam entwickeln", sagt er.

Beim Turnier in Sindelfingen bekommen die Zuschauer vorgeführt, was er mit der fehlenden Selbständigkeit meint. Während die Spieler des VfB oder des FC Bayern sich von jeder noch so kleinen Fehlentscheidung des Schiedsrichters oder einem unerlaubten Rempler des Gegenspielers ablenken lassen und fast hilflos nach draußen zu den Trainern schauen, verziehen die Spieler des späteren Siegers FC Liverpool in vergleichbarer Lage keine Miene und spielen einfach weiter. "In unserer Ausbildung geht es vor allem darum, dass wir die Spieler zu Persönlichkeiten entwickeln, die sich in der Gesellschaft zurechtfinden können", sagt Phil Roscoe.

Er ist Nachwuchsleiter beim FC Liverpool, "Head of Education und Welfare", wie auf seiner Visitenkarte zu lesen ist. Die Fürsorge steht dabei ganz oben, wie er hervorhebt. "Nur die wenigsten von ihnen werden ihr Geld später mit dem Fußball verdienen können." Wie wichtig dem englischen Klub der interkulturelle Austausch war, kann man daran erkennen, dass sie für die Teilnahme am Junior-Cup eigens ein Ligaspiel gegen Manchester United verlegt haben.

Im Nachwuchsfußball schauen sich die Konkurrenten über die Schulter

Hitzlsperger kennt die Strukturen in England, er hat sie selbst erleben dürfen. Und wie den Liverpoolern liegt ihm viel daran, von den Besten zu lernen. Deshalb werden er und andere vom VfB bald nach Bilbao fliegen, um sich dort das Ausbildungsprogramm der Basken anzusehen. Hospitanzen im internationalen Nachwuchsfußball kommen häufig vor. Erst vor ein paar Wochen hatte eine zehnköpfige Delegation von Paris Saint-Germain in Stuttgart vorbeigeschaut.

Auch Hitzlsperger möchte die Spieler "aufs Leben vorbereiten", wie er sagt. Und deshalb verlangt er von ihnen auch, dass sie die Schule genauso ernst nehmen wie den Fußball. Dreimal in der Woche bietet der VfB seinen Nachwuchsspielern ein vormittägliches Training an, von elf bis zwölf. Nach einem gemeinsamen Mittagessen kommen dann die Lehrer zum VfB Stuttgart, um den Unterricht nachzuholen. Verschlechtern sich die Noten, kommt es schon einmal vor, dass Hitzlsperger in Absprache mit dem Klubpädagogen einem Spieler ein Vormittagstraining verwehrt. "Das ist ein Druckmittel, das meistens funktioniert", erzählt Hitzlsperger. Niemand von ihnen will eine Übungseinheit verpassen, schon gar nicht beim aktuellen Tabellenführer der A-Junioren-Bundesliga.

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Quelle:
SZ vom 10.01.2019
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