Dieses spannende Berlin, das im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ein so großes Versprechen war, für Kreative und Künstler, es brachte eine eigene Sportart hervor, die, rückblickend betrachtet, nur in diesem Berlin zu dieser Zeit gedeihen konnte: das Schachboxen. Iepe Rubingh, ein junger niederländischer Künstler, geboren am 17. August 1974 in Rotterdam, der sich neben Kunst auch für Schach und Boxen begeisterte, hatte die Anregung dazu einem Comic entnommen. Iepe Rubingh, dessen Vornamen man genau so sprach, wie er sich schrieb: langes I, kurzes P und ein nachhallendes E, bestritt den ersten Weltmeisterschaftskampf seiner erfundenen Sportart 2003 in Amsterdam gleich selbst, bevor er die Idee nach Berlin brachte. Ideen hatte er sowieso reichlich, und er verband sie mit der Fähigkeit, sie auch Wirklichkeit werden zu lassen.
In Tokio sperrte er einmal im Narrenkostüm eine Kreuzung mit Flatterband ab und ging dafür ein paar Tage ins Gefängnis. In Berlin und an anderen Orten ließ er es unter Bäumen regnen. "Social Sculptures" nennt man solche Kunstwerke, und das Soziale darin war ihm das Wichtige daran. Er wollte Menschen zusammenbringen.
Das tat er mit Charme und einem großen Herzen; wo Rubingh war, war meistens auch gute Laune, er weigerte sich, schlecht drauf zu sein, auch wenn Holland wieder mal im Fußball verlor. Während viele andere Künstler und Projektmacher grübelnd im ewigen Konjunktiv verharrten, gelang es Rubingh vielmehr, mitreißende Kampfabende zu organisieren. Er schrieb ein Regelwerk zum Schachboxen, das noch am ehesten mit Biathlon zu vergleichen ist und zunächst vor allem andere Künstler und Kreative anzog, weswegen viel darüber geschrieben und berichtet wurde. Es wird bei dieser Hybrid-Sportart abwechselnd eine Runde geboxt und eine Runde Schnellschach gespielt, bis eine der Kämpferinnen oder der Kämpfer k.o. oder schachmatt sind, oder aber die Zeit abläuft. Das Schach macht die Taktik sichtbar, das Boxen die Anstrengung nachvollziehbar, die Uhren erhöhen die Spannung.
Rubingh überredete Boxer, die gerade mal den Schäferzug kannten, sich im Schach weiterzubilden. Großmeister streiften sich für ihn Boxhandschuhe über. An der Tür der Trainingsstätte im Keller der Franz-Mett-Sporthalle in Berlin-Mitte - wo sonst? - hing ein Schild mit der Aufschrift "Intellectual Fightclub". Rubingh trainierte häufig mit, war einer der Fleißigsten am Sandsack und am Schachbrett sowie sehr ehrgeizig im Ring. Jeder Boxer, auch jeder Schachboxer, lernt seinen Gegenüber beim Hauen besser kennen - Rubingh war nicht nur enthusiastisch, sondern auch ein zäher Kerl mit großem Willen; beim Boxen nennt man diese Eigenschaft "Herz " - wenn einer weitermacht, obwohl die Sache nicht gut für ihn läuft.
Rubingh fand immer neue Wettkämpfer, Locations und Moderatoren, die sowohl das eine wie auch das andere verstanden und erklären konnten. An den Kampfabenden zog er sich einen weißen Anzug an und gab den fröhlichen Box-Impresario. Das kleine, aber wachsende Publikum war begeistert, der Enthusiasmus sprang über nach London, nach Moskau, nach Kalkutta, wo es heute den größten Schachbox-Verband der Welt gibt. Das große Geld ließ sich damit nicht verdienen, doch es entstand etwas viel Wertvolleres: eine Gemeinschaft von enthusiastischen und halbwegs fitten Schlaumeiern, die sich darauf verständigen können, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Psychologie des Boxens und der Brutalität von Schach.
Iepe Rubingh selbst machte weiter Performance-Kunst, so ließ er 2010 auf einer Berliner Kreuzung 500 Liter Farbe ausleeren, die von den folgenden Fahrzeugen zu einem Kaleidoskop der urbanen Mobilität verschmiert wurden. "Painting Reality" hieß die Aktion. Und wer ab und an im Box-Keller in der Franz-Mett-Sporthalle oder auf Kampfabenden zu Gast war, konnte das Personal wiedererkennen, das an die Säcke schlug, Figuren versetzte - oder eben Farbeimer ausleerte, der Kunst zuliebe.
Rubingh machte sich auch daran, einen Schachbox-Weltverband zu gründen. Das Ziel: Olympische Spiele - wenn nicht die nächsten, dann doch in absehbarer Zeit. Aber über eine bestimmte Größe hinaus wollte seine Idee nicht wachsen, sie blieb eher Kunst als Breitensport und Rubingh mehr Künstler als Impresario. Dafür blieb Berlin, auch wenn es sich in den vergangenen 15 Jahren verändert hat, ein gutes Pflaster. Hier lebte Rubingh in der Kastanienallee, die, als er hergezogen war, Casting-Allee genannt wurde, weil dort so viele junge Menschen auf- und abflanierten, in der Hoffnung, einen Model-Job oder eine Nebenrolle zu ergattern. Dort blieb er, auch als die Boutiquen und die Markenläden kamen, die sogenannte Gentrifizierung. Und dort wurde er am Freitag nach plötzlichem Herztod in seiner Wohnung gefunden. Sein großes Herz hat mit nur 45 Jahren aufgehört zu schlagen.