Süddeutsche Zeitung

Nach Sieg gegen Chile im WM-Viertelfinale:Der Pfosten wahrt Brasiliens Traum

Je länger das Spiel dauert, desto schüchterner spielt die Seleção. Erst in einem dramatischen Elfmeterschießen kann sich der Gastgeber gegen Chile durchsetzen und erreicht das WM-Viertelfinale. Das ganze Land und die Fifa atmen durch.

Von Lisa Sonnabend

Neymar und Alexis Sánchez, Vereinskollegen beim FC Barcelona, tätschelten sich im Spielertunnel die Wangen, sie lachten, sie umarmten sich lange. Doch dann ging es hinaus auf den Platz. Das erste K.o.-Spiel der WM begann, und damit der grausamste Teil des Turniers. Brasiliens Neymar und Chiles Alexis Sánchez waren fortan Gegner - und sie rangelten kräftig.

Nach 90 Minuten stand es 1:1, in der Verlängerung traf keine der Mannschaften und so musste die Achtelfinalpartie im Elfmeterschießen entschieden werden. Neymar ließ sich die Oberschenkel massieren, Alexis Sánchez die Waden. Die Vereinskollegen wechselten nun kein Wort mehr, sie würdigten sich keines Blickes. Am Ende war es Neymar, der jubelte. Alexis Sánchez sank auf die Knie. Brasilien gewann mit 3:2 im Elfmeterschießen.

Die Bilanz hatte vor Spielbeginn weitaus deutlicher für Brasilien gesprochen: 48 von bisher 68 Duellen gewann die Seleção. Auch eine Entscheidung von Luiz Felipe Scolari hatte viele Brasilianer optimistisch gestimmt. Der Trainer gab dem Druck der Öffentlichkeit und der Offensichtlichkeit der Spielerstatistiken nach: Er ersetzte im Mittelfeld den schwächelnden Paulinho durch Fernandinho.

Die brasilianische Mannschaft begann die Partie, bei der so viel verloren gehen konnte, nervös. Auf den elf Spielern lastete schließlich der Druck des ganzen Landes und der Fifa, denn der Weltverband fürchtete, die Begeisterung der Brasilianer könnte nachlassen und dafür die Proteste wieder aufflammen, sollte der Gastgeber ausscheiden. Hulk erlaubte sich rasch einen gewaltigen Fehlpass, die Verteidiger um David Luiz und Dani Alves mussten mehrmals klären - und Fernandinho legte einen Gegner derart unnötig und grob, dass er froh sein konnte, von Schiedsrichter Howard Webb keine gelbe Karte gezeigt zu bekommen.

Die Chilenen konnten davon allerdings nicht profitieren. Von Alexis Sánchez, vor dem die Brasilianer die größte Angst hatten, war lange wenig zu sehen. Die Spieler von La Roja fielen anfangs eigentlich nur auf, wenn sie Neymar mal wieder durch ein rüdes Foul zum Stoppen brachten.

Es war die Seleção, die zunächst zu den besseren Chancen kam. Marcelo donnerte einen Distanzschuss knapp am Tor vorbei (6.), Hulk fiel - statt zu schießen - im Strafraum (13.). Nach einer Viertelstunde sprintete Neymar von der Mittellinie bis in den Strafraum, tänzelte um zwei Gegner herum, doch es konnte sich kein Mitspieler rechtzeitig in Schussposition bringen.

Und dann trat Neymar in der 18. Minute zu einer Ecke an, es wurde laut im Stadion von Belo Horizonte - und wenige Sekunden später noch lauter. Hulk verlängerte die Ecke mit dem Kopf zum rechten Torpfosten. Dort standen David Luiz und der chilenische Verteidiger Gonzalo Jara. Wer von den beiden den Ball mit dem Oberschenkel über die Linie drückte, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Die Zeitlupe identifizierte später Jara als Torschützen. David Luiz war das egal, er ließ sich an den langen Locken ziehen und feiern. Auch die Fifa rechnete Luiz zumindest vorläufig den Treffer an.

Dem Tor des Gegners wurden die Chilenen lange Zeit nicht gefährlich. Im Mittelfeld attackierten sie die Brasilianer harsch, die Partie wurde immer intensiver. Viel zu oft allerdings verloren die Chilenen den Ball wieder im Mittelfeld, da auch die Brasilianer früh zupackten. Doch in der 33. Minute konnten dann auch die Chilenen auf fremde Mithilfe zurückgreifen. Hulk vertändelte einen Einwurf an der eigenen Eckfahne derart, dass er den Ball an Eduardo Vargas verlor. Der nahm das Geschenk dankbar an - und passte quer auf Alexis Sánchez, der freistehend aus 13 Metern ins linke Toreck traf und überraschend ausglich.

Dennoch blieben die Brasilianer das aktivere Team in dieser Achtelfinalpartie. Wie in den drei Spielen zuvor ging die größte Gefahr der Seleção von Neymar aus, Stürmer Fred dagegen verstolperte seine Möglichkeiten. Kurz vor der Pause hielten Brasilien und die Fifa wieder die Luft an: Der flinke Alexis Sánchez streckte im Strafraum zu Charles Aranguiz, der scheiterte allerdings aus kürzester Distanz an Brasiliens Torhüter Julio Cesar.

Nach der Halbzeit belauerten sich die beiden Teams, sie verlangsamten das Tempo. In der 54. Minute rauschte Hulk dann in den Strafraum und bugsierte den Ball ins Tor. Doch er hatte den Ball mit dem Oberarm angenommen - und Howard Webb genau hingeschaut. Hulk jubelte kurz, bekam dann aber statt einem Eintrag in die WM-Torschützenliste die gelbe Karte.

Trainer Scolari handelte: Er brachte den großen Stürmer Jô für Fred, wenig später folgte Ramires für Fernandinho. Je länger das Spiel dauerte, desto schüchterner und unsicherer wurde die Seleção. Nicht einmal Neymar konnte glänzen. Der Druck lastete schwer. Doch Chile nutzte dies nicht: Eine lässige Weitergabe von Arturo Vidal verlängerte Isla zu Aranguiz. Der scheiterte jedoch an Julio Cesar, der den Schuss mit einer spektakulären Parade abwehrte (64.).

Erst 15 Minuten vor Schluss ging von Brasilien wieder Torgefahr aus: Hulk flankte in den Strafraum, doch der 1,89 Meter lange Jô hätte Schuhe in einer Nummer größer anziehen müssen, um den Ball ins Tor zu spitzeln. Dann scheiterte auch noch Neymar mit einem Kopfball (81.) und Hulk mit einem Distanzschuss (83.). Es ging in die Verlängerung.

Das Spiel war nicht mehr hochklassig, aber extrem spannend und kräftezehrend. Hulk peitschte das Publikum an. Doch es half nichts. Große Möglichkeiten gab es auf beiden Seiten nicht. Stürmer Jo fiel nur auf, wie er mit gestrecktem Bein Torwart Bravo statt dem Ball traf. Scolari schickte nach dem Seitenwechsel Willian für Oscar aufs Feld. Zwei Minuten später musste Chiles Gary Medel raus, der so erschöpft war, dass er mit der Trage abtransportiert werden musste. José Rojas kam für ihn.

Immer mehr Spieler blieben auf dem Feld liegen, Teamkollegen drückten die Krämpfe raus. Zug nach vorne zeigten beide Mannschaften kaum noch. Bis zur 119. Minute: Mauricio Pinilla knallte einen Distanzschuss so fest an die Latte, dass er bis weit hinter die Strafraumlinie zurücksprang. Das war es. Die erste Partie der K.o.-Runde der WM 2014 wurde auf die grausamste aller Weisen entschieden: im Elfmeterschießen.

Neymar schwor seine Mannschaft noch einmal, er wusste, was auf dem Spiel steht. David Luiz legte den Ball als erster auf den Punkt - und traf sicher. Chiles Pinilla dagegen schoss zu harmlos in die Mitte, Julio Cesar wehrte den Ball mit den Beinen ab. Doch Brasilien nutzte den Vorteil zunächst nicht: Der nächste Schütze Willian zog am linken Pfosten vorbei. Alexis Sánchez trat an - doch Julio Cesar hielt, da auch dieser Schuss in die linke Ecke nicht platziert genug war. Marcelo erhöhte daraufhin, Aranguiz verkürzte. Und Hulk zielte wie Pinilla in die Mitte, zu leicht für Torwart Bravo. Díaz machte die Partie wieder offen. Neymar täuschte an, zögerte, doch verwandelte.

Chile durfte nun nicht verschießen - doch genau das tat Jara. Der Ball landete am rechten Innenpfosten. Neymar rannte los, mit den Teamkollegen bildete er ein Knäuel. Dann sank er zu Boden, er schluchzte vor Freude. Wenige Minuten später stand Torhüter Cesar am Spielfeldrand: "Das ist mehr als Glück, was ich gerade verspüre", sagte er und weite hemmungslos.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2021751
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/ska
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.