Nach dem Anschlag in Dortmund:Der erbarmungslose Sport

  • Nur knapp 24 Stunden nach der Attacke auf die Mannschaft von Borussia Dortmund ist an diesem Abend die Partie gegen Monaco neu angesetzt.
  • Der Fußball verfährt nach dem Motto: Es muss immer weitergehen - das liegt auch daran, dass es um so viel Geld geht.
  • Was das mit den Protagonisten macht, rückt in den Hintergrund.

Von Thomas Hummel

Das Dortmunder Fußballstadion wird an diesem Mittwochabend mehr denn je zu einer Kathedrale werden. 65 800 Menschen und dazu ein paar Millionen vor dem Fernseher werden an einer Messe teilnehmen, in der Menschen gegen den Terror predigen und gegen Gewalt aufstehen. Ein Fußballspiel wird zum Symbol.

Nicht zum ersten Mal übernimmt der Sport die Aufgabe der Trauer- und Schockbewältigung. Gerade der Fußball als mit Abstand größte Unterhaltungsindustrie der Welt darf nach Ansicht vieler keinesfalls stoppen, wenn Kriminelle die Werte der Gesellschaft angreifen. Legendär und bis heute richtungsweisend ist der Ausspruch von Avery Brundage bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Bei einer Geiselnahme von palästinensischen Terroristen waren elf israelische Sportler gestorben, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees erklärte tags darauf: "The Games must go on!" Die Spiele müssen weitergehen. Daraufhin rannten und kämpften die Athleten wieder um Gold und Ruhm (nur die Delegation Israels flog nach Hause). Ob das damals richtig war, darüber gab und gibt es sehr unterschiedliche Meinungen.

Brundages Worte sind die Leitlinie bis heute. The show must go on. Um 18.45 Uhr an diesem Mittwochnachmittag wird Schiedsrichter Daniele Orsato das Champions-League-Viertelfinale Borussia Dortmund gegen AS Monaco anpfeifen. Es werden dann beim BVB elf junge Männer auf dem Rasen stehen, die keine 24 Stunden vorher einen Anschlag auf ihr Leben körperlich heil überstanden haben. Drei Bomben waren in der Nähe des Mannschaftsbusses auf dem Weg zum Stadion explodiert, eine verstärkte Glasscheibe ging zu Bruch. Verteidiger Marc Bartra musste noch in der Nacht wegen Verletzungen am Arm operiert werden.

Dieses Mal gab Reinhard Rauball, Präsident des BVB, der Deutschen Fußball-Liga und Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes, die Linie vor: Nur gut eine Stunde nach dem Anschlag sagte er beim TV-Sender Sky: "Die Spieler sind Profis und ich bin der Auffassung, dass sie das wegstecken werden, und dass sie in der Lage sind, morgen ihre Leistung abrufen zu können."

Die Frage stellt sich: Kann Herr Rauball eine Stunde nach dem Anschlag so sicher sein? Er konnte noch nicht wissen, was alle Spieler, die Trainer und Betreuer fühlten und dachten.

Der Profisport entpuppt sich in diesen Momenten als erbarmungslose Leistungsmühle. Die Gladiatoren müssen wieder raus - weiter, immer weiter. "Das wäre ja das allerschlechteste, wenn diejenigen auch noch Erfolg haben, die Mannschaft sich dadurch beeinflussen lässt und das Spiel nicht so bestreitet, wie sie das gerne möchte", führte Rauball aus. Die muskelgestählten, hochbezahlten Männer müssen das Vorbild abgeben für eine Gesellschaft, die stark und unnachgiebig die westlichen Werte verteidigt.

BVB-Boss Watzke lädt das Spiel symbolisch auf

So lassen sich auch die an diesem Vormittag verbreiteten Worte von BVB-Boss Hans-Joachim Watzke interpretieren: "Ich habe gerade in der Kabine an die Mannschaft appelliert, der Gesellschaft zu zeigen, dass wir vor dem Terror nicht einknicken." Freilich hat nun jeder Dortmunder Spieler theoretisch die Möglichkeit, sich zu weigern. Doch in der Blase Profifußball ist es nicht vorgesehen, Schwächen zu zeigen. Und es geht schließlich um die Champions League, da lässt man die Kameraden nicht gerne hängen.

Nach Explosionen an BVB-Bus

Die Polizei sichert mit Sprengstoffspürhunden das Dortmunder Stadion

(Foto: dpa)

Bemerkenswert an der Spielansetzung ist vor allem die Zeitfolge. Schon um 20.30 Uhr gab die Uefa am Dienstagabend bekannt, dass in Absprache mit den Beteiligten die Partie am Mittwoch nachgeholt werde. Die Entscheidung fiel also nur eine gute Stunde nach dem Anschlag. Wie Watzke mitteilte, sei dieser Termin "alternativlos", weil Monaco ja schon am Wochenende wieder antreten müsse und das Rückspiel für kommenden Mittwoch terminiert sei.

Das Rad muss sich weiterdrehen, es darf nicht stehen bleiben. Der Terminkalender ist unerbittlich. Die Uhrzeit 18.45 Uhr ergibt sich daraus, dass um 20.45 Uhr der FC Bayern gegen Real Madrid spielt. Eine Gleichzeitigkeit wäre für die übertragenden und finanziell gebundenen Fernsehanstalten misslich. Auch die Sponsoren zahlen ihre Millionen dafür, dass der deutsche Kunde im besten Fall zwei Mal 90 Minuten ihre Banner sieht.

Immerhin gab Watzke am Dienstagabend im Stadion zu: "Das ist eine sehr unglückliche Situation." Dennoch wusste ja niemand, was genau geschehen war. Ob vielleicht noch mehr Anschläge in Dortmund geplant waren. Wie schwer die Verletzung von Verteidiger Bartra ist. Und mit den Spielern hatte auch keiner gesprochen, ob sie überhaupt antreten wollen. Für den Fall, dass sich der BVB nun doch weigern sollte, das Spiel auszutragen, sieht die Uefa in ihrem Champions-League-Reglement eine Strafe von 500 000 Euro vor. Zudem verliere der Klub jeglichen Anspruch auf Zahlungen vom Verband - was saisonübergreifend viele Millionen Euro wären.

Dass die Dortmunder Mannschaft einen Tag nach dem Angriff auf ihr Leben ein Fußballspiel austrägt (oder austragen muss), darüber werden wie 1972 in München die Meinungen auseinandergehen. Die einen sehen es als Zeichen, dass man sich nicht unterkriegen lässt, dass man seinen Lebensstil nicht ändern darf wegen ein paar Verrückten. Wobei man ihn natürlich trotzdem ändert, weil Sportveranstaltungen inzwischen unter Hochsicherheitsbedingungen stattfinden. Etwa bei der vergangenen Fußball-EM in Frankreich, wo Besucher an manchen Orten durch vier Polizeikontrollen mussten, um ins Stadion zu gelangen. Das Gefühl von Spiel, Spaß und Sport ist nicht mehr dasselbe wie früher. Da hilft wohl auch kein kollektives Predigen.

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