Wo beginnt man diese Geschichte über den ältesten Sportverein Bayerns? Vielleicht am tiefsten Punkt, als der Münchner Schachclub 40 Jahre nach seiner Gründung über seine Auflösung abstimmen wollte, aber nicht beschlussfähig war, weil nur vier Mitglieder erschienen? Beginnt man am Höhepunkt, in den goldenen Jahren, als München kurz der Nabel der Schachwelt war? Oder fängt man im Hier und Jetzt an, im Pfarrsaal "Zu den heiligen Zwölf Aposteln", wo unter einer schweren Jesusfigur erstaunlich viele junge Menschen versuchen, einen iranischen Großmeister zu besiegen?
"Start the engine", sagt Michael Reiß und ruft damit die nächste Runde aus. Es wird Blitzschach gespielt, zum "Runterkommen", wie meistens nach einem Liga-Wettkampf am Wochenende. Reiß, 61, ist Vorstand des altehrwürdigen Münchener Schachclubs von 1836, er ist Bewahrer des Vereins und Unterhalter an diesem Abend im Februar. Es klappert, zwei, drei Sekunden vergehen zwischen den Zügen, dann schlagen die Hände der Spieler auf eine Uhr; Blitzschach ist eine atemlose Angelegenheit. An den Brettern sitzen 24 Spieler, 19 bis 78 Jahre alt, mehr junge als alte, darunter eine Frau, Preisgeld: 50 Euro. Zuschauer: keine. Der Münchner Schachclub, gegründet 1836, ist der älteste existierende Sportverein in Bayern, "älter ist nur die katholische Kirche", scherzt Reiß. Er knabbert Nüsse. Dazwischen versucht er Antworten zu finden auf die Frage, wie es gelingt, so lange eine Gemeinschaft am Leben zu halten.
"Das war wie Boris Becker fürs Tennis"
Viele Vereine sind verschwunden, aber der MSC ist immer noch da. "Eine Menge Glück" sei nötig, um sich so lange zu halten. Egal wie tief der Sturz, "wir fallen immer wieder auf die Füße", sagt Reiß. "Es wird sich immer jemand kümmern, um den Verein zu restaurieren", glaubt er, so wie Reiß es selbst getan hat. Er hat die Vergangenheit mitgebracht, zwei Hefte liegen neben ihm, die Chroniken.
Alles fing an im Café Kastner im Heiliggeistgässchen am Viktualienmarkt, beim "Schachkränzchen"; eine honorige Gesellschaft aus Offizieren, Kaufleuten und Beamten spielten das Spiel der Könige im Königreich Bayern, es war eine elitäre Angelegenheit. Der MSC hatte mal sieben, mal 42 Mitglieder. Man blieb unter sich, bis sich das Schachspiel in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts öffnete: "Der Zweck sei doch der, die Arbeiter vom Biertrinken und Kartenspielen abzulenken und zum Nachdenken anzuregen", hieß es bei der Gründungsversammlung des Deutschen Arbeiter-Schachbundes 1903. Für einen Boom sorgte das Duell um die WM-Krone zwischen den deutschen Schachgrößen Emanuel Lasker und Siegbert Tarrasch, Lasker siegte und blieb 27 Jahre Weltmeister. "Das war wie Boris Becker fürs Tennis", sagt Reiß. Tatsächlich folgte die Blütezeit des Schachvereins: 1925 hatte der Klub 235 Mitglieder, heute sind es weniger als die Hälfte.
Der Verein residierte damals im Zentrum des intellektuellen Zirkels Münchens, im Künstlerlokal Café Stefanie. Es war der Treffpunkt der Münchner Bohème, die Passanten drückten sich die Nase platt an der Spiegelscheibe des Lokals, das im Volksmund damals Café "Größenwahn" hieß. "Massenhaft Maler, Schriftsteller und Genieanwärter jeder Art", was die Münchener dieser Zeit unter dem Begriff "Schlawiner" zusammenfassen, hielt der Autor Erich Mühsam damals fest. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Paul Klee, Alfred Kubin, Heinrich Mann und Frank Wedekind waren unter den Stammgästen. Im Schatten des aufziehenden Nationalsozialismus richtete der Verein 1936 die Schacholympiade in München aus, ein 100. Geburtstag unter dunklen Vorzeichen. Viele Spieler kehrten nicht mehr zurück aus dem Krieg. Die Vereine wurden verboten.
Doch in der Nachkriegszeit gelang es wieder, den versprengten Schachspielern und Kriegsheimkehrern eine Heimat zu geben. Wolfgang Unzicker führte den MSC in die goldenen Zeiten, zu acht deutschen Meisterschaften zwischen 1951 und 1965. Unzicker galt als bester Amateurspieler der Welt, er forderte Koryphäen wie Bobby Fischer oder Boris Spasski heraus.
Er erlebte aber auch die Zeitenwende, als das Spektakel nicht mehr die Duelle Mensch gegen Mensch waren, sondern der Zweikampf mit Rechenmaschinen. Nur wenige Sterbliche könnten gegen die unerhört teuren Schachcomputer antreten, berichtete die Vereinschronik 1974. Die Technische Hochschule München hatte damals so einen Superrechner, doch zunächst wähnte sich der Mensch der Rechenkraft der Computer überlegen. Es fehle dem künstlichen Gehirn die schöpferische Kraft, der Computer gebe auf, "ohne zu erröten", vermerkten die Chronisten. Tatsächlich sollte es erst 22 Jahre später dem Schachcomputer "Deep Blue" gelingen, den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow in einer Partie unter Turnierbedingungen zu schlagen.
Kaum ein Sport ist von den technischen Entwicklungen so in seinen Grundfesten erschüttert worden. Die Bibliotheken der Schachvereine, der Schatz, in denen die gesammelten Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Spieler gesammelt waren, sind heute nur nostalgische Relikte. Digitale Datenbanken haben alle Partien abrufbar, alles analysierbar. Ein neuer Zug, eine Eröffnung mit Finesse? Bleibt nicht lange verborgen. Und gleichzeitig stemmt sich Schach gegen das Neue: Immer noch wird Fernschach gespielt, der nächste Zug am Schachbrett wird mit der Postkarte zum Gegner geschickt. Ein Schachspieler braucht nur ein Brett und einen Gegner, und manchmal nicht einmal das.
Trotzdem ist es schwierig, eine Heimat für die Schachspieler zu finden. Schachvereine seien "nicht besonders hoch angesehen", sagt Michael Reiß im Münchner Pfarrsaal. Mit vollem Magen denkt es sich schlecht, und deshalb mache ein Wirt mit Schachspielern keinen Umsatz. In einem Altenzentrum der Arbeiterwohlfahrt in Giesing spielt der MSC seine Partien, mittlerweile hat der Klub in der Säbener Straße seinen Rückzugsort, in der Gaststätte des Münchner Kegler-Vereins, wo die Kugeln über die Bahn wummern. Nebenan trainieren die Fußballer des FC Bayern.
Der Nachbar ist auch der uralte Rivale. Der Schachklub FC Bayern München hieß früher mal "Anderssen Bavaria" und ist mit neun Meisterschaften aus den Achtziger- und Neunzigerjahren um einen Titel voraus. Auch im Moment sind die Bayern enteilt. Sie sind dort, wo der MSC erst wieder hin möchte: in der ersten Bundesliga.
Ein Schachteam zwar nicht viel Geld, Unterstützer zu finden, das ist aber schwierig
Der Verein hat einen tiefen Fall hinter sich, 1995 geriet der MSC in "finanzielle Schieflage", wie Reiß das nennt, ein Mitglied soll in die Kasse gegriffen haben. 2010 schließlich landete der Verein in der Münchner B-Klasse, "reinstes Amateurschach". Der Klub war fast am Ende, als Reiß ihn übernahm. Doch nun scheint er vor der Rückkehr in die erste Liga zu stehen, für das Wochenende wäre der finale Spieltag angesetzt gewesen - doch auch der Schachsport hat in der ersten und zweiten Liga die Partien wegen des Coronavirus abgesagt. Der Höhenflug ist erst einmal gestoppt. "Wir sind schnell nach oben geschossen", sagt Reiß. In kurzer Zeit lässt sich viel erreichen, das ist im Mannschaftsschach auch eine Gefahr. Starke Spieler kann man einkaufen, was Vereine dazu verführt, mehr zu wagen, als sie sich leisten können. Topspieler sind in verschiedenen Ländern für unterschiedliche Klubs am Brett.
Für wichtige Partien der Münchner werden die jungen Iraner Amin Tabatabaei und Alireza Firouzja eingeflogen. "Wir leisten uns den Luxus", sagt Reiß, aber mit Augenmaß, man habe die Lehren aus der Geschichte gezogen. Besonders Firouzja, 16, hat für Schlagzeilen gesorgt, er sagte sich im Dezember vom iranischen Verband los und startet nun unter der neutralen Flagge des Schach-Weltverbandes Fide; bei der Schnellschach-WM Ende des Jahres musste er sich nur dem Weltbesten Magnus Carlsen beugen.
Viele sagen dem Teenager eine glänzende Karriere voraus, nach München werden sie ihn kaum noch locken können. Besser sieht es da beim zweiten Großmeister aus, Amin Tabatabaei. Der steckt im Pfarrsaal sein Preisgeld ein, kein Gegner konnte ihn schlagen. Finanziert werden die Engagements solcher Topspieler durch Spenden von "gut situierten Mitgliedern", wie Reiß sagt. Bei der Sponsorensuche hinke man hinterher, Zuschauereinnahmen gibt es kaum. Gemessen an anderen Sportarten braucht ein Schachteam zwar nicht viel Geld, das Budget der Münchner liegt aktuell bei 20 000 Euro pro Saison. Unterstützer zu finden, das ist aber schwierig.
Als ältester bayerischer Verein mit der jüngsten Mannschaft aufzusteigen, mit dieser Geschichte könnte man vielleicht einen Sponsor überzeugen, hofft Reis. Den 200. Geburtstag soll der Verein auf jeden Fall noch feiern, wünscht sich Reiß. Vielleicht so wild wie damals, im Café Größenwahn.