Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft gegen England:Mia san jemand anderes

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Weil der Bundestrainer bei der EM andere Prioritäten setzt, können die Bayern-Spieler ihre im Verein bewährten Automatismen kaum nutzen. So wirkt im Offensivspiel der DFB-Elf vieles zufällig - wie sich an Thomas Müller zeigt.

Von Christof Kneer, Herzogenaurach

Die Vorlage kam perfekt angeflogen, aber Thomas Müller nutzte sie nicht. Ob Oliver Bierhoff im Teamquartier manchmal nerve mit dem Golden Goal, mit dem er Deutschland im Sommer 1996 zum Europameister gemacht hatte, wollte jemand wissen, eine Scherzfrage, wie gemacht für Müller. Manchmal ist das ja Müllers Ehrgeiz, die besten Sprüche in der Pressekonferenz macht bitte nur er, aber an diesem Wochenende hatte er keine Lust auf Witze.

Er hat ganz ernst erzählt, dass das 96er-Turnier das erste war, das er bewusst miterlebte, knapp sieben Jahre alt war er damals, "und da habe ich zum ersten Mal kapiert, dass es im Fußball um ein bisschen mehr geht". Aber auch damals, fuhr Müller fort, habe es ja knappe Ergebnisse gegeben, "denn sonst bräuchte es ja kein Golden Goal". Diese Beweisführung war lückenlos und wasserdicht. Bei einem 3:0 oder 7:1 bräuchte es nicht mal eine Verlängerung.

Thomas Müller hatte einen Auftrag an diesem Wochenende, es ist nur nicht ganz klar, wer ihm den gegeben hat. Zu vermuten steht: er sich selbst. Er hielt eine Grundsatzrede, die sich nach außen und innen richtete, an die Menschen im Lande und die Mitspieler im Quartier. Er sprach wie ein Regierungschef, der sein Volk auf einschneidende Sparmaßahmen vorbereitet.

Es sei "natürlich die Wunschvorstellung, dass man in jedem Spiel überlegen agiert und den Gegner total dominiert, aber so funktioniert das heute nicht mehr". Man könne da gerne mal in die anderen Vorrundengruppen bei dieser EM schauen oder sich an der EM 2016 orientieren, als der spätere Europameister Portugal erst im Halbfinale das erste Spiel in der regulären Spielzeit gewann. Fazit Thomas Müller: "Knapp zu gewinnen, ist keine Schande."

Thomas Müller, der selbsternannte Raumdeuter, ist in den vergangenen Monaten mehr denn je zum Spieldeuter geworden. Es wirkt, als habe er sein Sprech- und Sprachvermögen in den leeren Stadien der Corona-Zeit noch mal zugespitzt. Keiner hat Fußballspiele zuletzt mit einer derart pointierten Seriosität erklärt; das einst vor allem für seine Comedybeiträge bekannte "Radio Müller" erfüllte zuletzt fast schon einen öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag. Manchmal ging die Qualität der Müller'schen Analyse nach Spielen sogar fast zu weit. Man hätte sich die Ansicht des Spiels beinahe sparen können, es reichte ja, sich auf Radio Müller hinterher die Zusammenfassung anzuhören.

Thomas Müller sei "der dritte Co-Trainer, den wir haben", sagt der Kollege Kai Havertz

Thomas Müller sei "der dritte Co-Trainer, den wir haben", hat der Nationalspieler Kai Havertz am Sonntag im Teamquartier in Herzogenaurach gesagt. Und der Mitspieler Robin Gosens hat die Nachfrage, ob es sich bei Müller um eine Mischung aus Quatschkopf und Co-Trainer handele, trocken und voller Respekt bejaht.

Wer Müller am Wochenende beim Deuten zugehört hat, hat vor allem etwas über diese kuriose Mannschaft gelernt, der er vorübergehend wieder angehört. Müller ist ein Offensivspieler, es müsste ihm eigentlich ein Anliegen sein, dass die Nationalelf so stürmisch spielt wie beim 4:2 gegen Portugal und nicht so verzagt wie beim 0:1 gegen Frankreich oder so verquält wie beim 2:2 gegen Ungarn.

Aber Müller sagt: "Es bringt nix, einfach nach vorne zu stürmen. Wenn wir gegen England vielleicht nur zwei, drei Torchancen haben werden, ja, dann ist es halt so." Dann müsse man eben eine der zwei, drei Chancen verwerten oder mit einem 0:0 in die Verlängerung gehen. Man müsse zunächst mal "die Offensive der Engländer so gut wie möglich im Zaum halten", es sei zuletzt ja "zu selten gelungen, hinten die Null zu halten".

Die Frage, welches dieser drei unterschiedlichen Vorrundenspiele am ehesten eine Aussage über die Qualität der deutschen Elf zulässt, ist weiterhin offen. Niemand weiß es. Robin Gosens votierte am Sonntag zwar für das Portugal-Spiel ("das war unser wahres Gesicht"), aber Thomas Müller ist sich da offenkundig nicht so sicher. Er hat seine Skepsis natürlich nicht konkret formuliert und erst mal die Mentalität des Teams gewürdigt, das sich vom 1:2-Rückstand gegen Ungarn "nicht hat umwerfen lassen" - aber seine weiteren Ausführungen kamen doch einem kleinen Misstrauensvotum gleich.

Der Stürmer Müller hat ein Plädoyer für Geduld und defensive Sorgfalt gehalten, weil er offenbar ein Gefühl nicht loswird: das Gefühl, dass die Mannschaft auf die defensive Null angewiesen ist. Weil sie sich ihrer Offensive nicht sicher ist und sich nicht darauf verlassen kann, dass sie am anderen Ende des Spielfeldes genügend Tore schießt. So warnte Müller erneut davor, die vier Tore gegen Portugal als Maßstab zu nehmen - "es war ja auch so, dass die Portugiesen dir mehr Optionen bieten". Frei übersetzt: Die haben eine Abwehr, gegen die Stürmen Spaß macht.

Jogi Löw traut sich nicht an das offensive Pressing-System des ehemaligen Bayern-Trainers Hansi Flick

Vor dem Turnier hieß es mitunter, Löw müsse einfach nur sechs oder sieben seiner FC-Bayern-Spieler nehmen und sie so spielen lassen wie beim FC Bayern. Dann werde das schon. Insofern war dies wohl die zentrale Erkenntnis des Müller-Vortrags: Mia san hier nicht der FC Bayern. Mia san hier jemand anderes.

Die deutschen Bayern-Spieler sind bei diesem Turnier im Grunde vereinslos. Sie spielen völlig anders, als sie dies unter dem ehemaligen Klubtrainer Hansi Flick taten. Flick hat die Spieler weit nach vorne geschickt, hat sie Pressing spielen lassen, Ballverluste 80 Meter vom eigenen Tor entfernt waren im System durchaus eingepreist. Die Wege waren präzise abgestimmt, jedem Ballverlust begegnete die Elf mit einer einstudierten Choreografie der Wiedereroberung.

Löw traut sich das nicht, und er hat mindestens zwei Gründe dafür. Erstens ist er grundsätzlich kein so großer Pressing-Liebhaber wie Flick; zweitens weiß er, dass die Kürze der Trainingszeit nicht ausreicht, um die Automatismen betriebssicher zu schärfen. Im Training hat sich die Nationalelf offenkundig auf die defensiven Abläufe konzentriert, in der Offensive wirkt vieles zufällig und von spontanen Eingebungen abhängig.

Man habe "schon eine andere Spielanlage" als beim FC Bayern, sagt Müller, auch seine Rolle sei eine andere. Bei Bayern gebe man dem Außenstürmer dem Ball und sage, "okay, lieber Außenstürmer, jetzt leg mal los", und das gebe einem zentralen Offensivspieler die Zeit, sich die Wege in Richtung Tor zu suchen. In der Nationalelf habe er "eher eine einleitende, initiierende Funktion, ich habe das Gefühl, dass es mich früher zum Ball hinzieht". Ein bezeichnender Satz: Müller hat das Gefühl. Klar definiert sind diese Wege wohl eher nicht.

Müller, 31, ist ein zertifizierter WM-Torschützenkönig, bei einer EM hat er noch nie getroffen. Wenn man ihn richtig verstanden hat, würde es ihm aber schon reichen, gegen England das 1:0 in der Verlängerung einzuleiten.

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