Süddeutsche Zeitung

Comeback nach Depression:"Jetzt umarmen sie mich im Ziel"

Lesezeit: 4 min

Von Emil Bischofberger, Lenzerheide

Der Anruf kommt unvermittelt. Es ist Ende September 2016, nach den Olympischen Spielen in Rio. Athletenmanager Johan Elliot hat von diesen nur den Schlusstag des Golfturniers mitverfolgt, Klient Henrik Stenson kämpfte um Gold. Nun sagt am Telefon eine Frau: "Hallo, hier ist Jenny Rissveds." Dann pausiert sie, sodass Elliot klar wird: Ihr Name sollte ihm etwas sagen. Tut er aber nicht. Sie merkt das und sagt: "Sie wissen nicht, wer ich bin - perfekt." Es ist der Beginn einer Partnerschaft mit einer Sportlerin, über die Elliot 2019 sagen wird: "Sie ist unglaublich, auf jede Weise. Ich mache das jetzt seit 20 Jahren. Aber diese drei Jahre waren eine bessere Erfahrung als alles zuvor."

Rissveds war zu jener Zeit 22 und gerade Olympiasiegerin geworden. Doch sie hatte realisiert, dass sie Hilfe braucht. Elliot, der Ex-Golfer, der Golfer vertritt, früher auch Martin Kaymer, hatte einen guten Ruf. So kam sie auf ihn - und der Schwede zu einer Klientin. Heute muss Elliot über seine Unwissenheit schmunzeln. "Als sie aus Rio heimkehrte, hatte Schweden eine neue Madonna", sagt er über Rissveds' Status - sie ist die berühmteste und beliebteste Sportlerin des Landes. Unter den Sportlern komme höchstens Zlatan Ibrahimovic an sie heran, findet Elliot.

Rissveds lädt die dringendsten Aufgaben bei Elliots Team ab, was eine Kettenreaktion auslöst. "Sie übernahmen meine äußeren Kämpfe - und gaben mir so Zeit und Raum, mich mit mir zu beschäftigen. Da realisierte ich erst, wie müde ich war." Das teilt sie auch ihrem Teamchef Thomas Frischknecht mit. Dabei hatte die Saison 2017 gut begonnen: Mit dem Zürcher Ex-Profi gewinnt sie ein Mixed-Rennen in Südafrika. "Ich nahm an, das sei wohl eine Winterdepression gewesen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass sich das so auswachsen würde", erinnert sich Frischknecht.

"Das ist lustig", sagt Rissveds: "Jetzt umarmen sie mich im Ziel."

Er sollte sich täuschen. In der Folge kann sich Rissveds kaum aufraffen, zu fahren. Im Frühjahr sterben in kurzer Zeit ihre Großväter. Sie lässt die ersten vier Weltcuprennen aus, bei den übrigen zwei ist sie ein Schatten der Olympiasiegerin. Nur ein Jahr nach dem größten Erfolg ihrer Karriere ist ihr Leben komplett aus der Bahn geraten. Sie kommuniziert dies ungewohnt offen, thematisiert ihre Depression, später auch ihre Essstörung. Die Reaktionen, die sie darauf erhält, überraschen sie: "Viele Spitzensportler kamen auf mich zu. Es gibt zahlreiche, die mit ähnlichen Problemen kämpfen. Es hilft, darüber zu sprechen. Zugleich ist das die größte Hürde: zuzugeben, dass es dir nicht gut geht. Das macht es so unglaublich schwer, es zu ändern."

Trotzdem wird ihre Situation schlimmer. Nach der Saison 2017 schafft sie sechs Monaten lang gerade noch tägliche Spaziergänge. Ansonsten verbringt sie die Tage im Bett, stellt sich existenzielle Fragen.

In der Zeit bricht auch der Kontakt zu Frischknecht nahezu ab. Er reist mit seiner Frau nach Schweden. "Der Winter dort ist nichts für dich, wenn es dir nicht gut geht. Es ist nass, kalt und nur drei Stunden pro Tag hell", sagt er ihr. Sie diskutieren Varianten der Zusammenarbeit - und auch eine Vertragsauflösung. Nach kurzer Bedenkzeit entscheidet sich Rissveds für die letzte Option. Sie schreibt danach: "Danke für die Reise. Es waren ein paar unglaubliche Jahre meines Lebens. Alles ging so schnell. Von ohne Erfahrung zu Weltcupsiegen zum WM-Titel zum Olympiasieg. Doch in Kombination mit einigen Umständen und zu viel Druck ging ich mir dabei verloren." Frischknecht sagt: "Das war schlimm - ihr nicht helfen zu können."

Elliot begleitet Rissveds beim Ablösungsprozess aus ihrem bisherigen Leben, bis auf zwei Verträge werden alle Sponsorenkontrakte aufgekündigt. In der Zeit verordnet sie, die ihr Leben sehr offen teilt, sich auch Auszeiten von den sozialen Medien. "Es gibt mehrere Studien, die zeigen, welch negativen Stress diese auf das Leben der Menschen haben können. Jetzt teile ich meine Zeit sehr bewusst ein", sagt Rissveds. Im Mai 2018 beginnt sie wieder zu trainieren. Jenen Moment beschreibt sie rückblickend so: "Nicht die Goldmedaille verursachte Schmetterlinge in mir, sondern die Tatsache, dass Körper und Geist wieder zusammenarbeiteten."

Ihr ist klar, wie viel ihr der Bikesport bedeutet. Aber auch, dass sie ihn nicht mehr so betreiben will wie zuvor. "Sie sagte: ,Es soll nicht um mich gehen'", sagt Elliot. Da erinnert sich sein Geschäftspartner an ein Konzept, dass die Agentur einmal verfasste: Team 31. Die Zahl steht für Artikel 31 der Uno-Kinderrechtskonvention. Es geht darin um das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung. Rissveds beschließt: "Ich mache das jetzt auf meine Weise. Und mit der Möglichkeit, die nächste Generation unterstützen zu können. Zu realisieren, dass ich, wenn ich mich eine Minute mit einem Kind abgebe, damit seine Perspektive verändern kann, das ist definitiv eine neue Dimension." Von nun an fährt sie für Kinder.

Ihr Trikot ist praktisch frei von Sponsorenlogos, dafür prangt die 31 darauf. Sie setzt ihre Zeit abseits von Training und Rennen anders ein. Nicht für Sponsoren- und Kundenanlässe. Sondern für Aktivitäten mit Kindern, ob auf dem Mountainbike, beim Fußball oder Yoga. Um weiter an Publizität zu gewinnen, braucht das Projekt aber auch den sportlichen Erfolg. Und dieser kehrt zurück. Ihre Weltcupränge seit dem Comeback: 33, 5, 9, 3. Frischknecht sagt: "Ich sehe sie jetzt bei 95 Prozent. Wenn sie wieder die 100 erreicht, gewinnt sie." Über die Rückkehr freut sich die Szene, selbst die Konkurrenz. Das fällt niemandem mehr auf als Rissveds selbst. Ihrem Manager erzählt sie: "Das ist lustig: Jetzt umarmen sie mich im Ziel." So war das auch am Sonntag. Da gewann sie zum zweiten Mal den Cross-Country-Weltcup in Lenzerheide.

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SZ vom 12.08.2019
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