Es ist frisch, noch erreichen die Sonnenstrahlen der Herbstsonne nicht den Boden, als der Startschuss fällt. 1739 Sportler auf zwei Rädern preschen unter dem Start-Zielbogen hindurch, sie ziehen eine hellbraune Staubwolke hinter sich her. Es warten 84 Kilometer und 2300 Höhenmeter auf die Fahrer, aufgeteilt in siebe Anstiege auf einem Kurs im Hinterland von Frejus, Südfrankreich. Der ausbleibende Regen macht die Strecke trocken, der Staub kratzt in der Lunge.
Es ist das letzte wichtige Rennen der Saison für Andreas Seewald, den Marathon- Mountainbiker aus Lenggries. Der Canyon Bike Marathon im Rahmen des fünftägigen Festivals Roc d'Azur zählt zur UCI Marathon World Series, also zu den Rennen, die am meisten Punkte für die Weltrangliste einbringen. Seewald steht dort auf Gesamtrang 16. In diesem Jahr sammelte er unter anderem bei Rennen in der Schweiz, in Frankreich und in Italien Punkte ein. Bei den Weltmeisterschaften im schweizerischen Grächen war er Neunter und damit bester Deutscher. Es war ein gutes Jahr für den Langstreckenspezialist, wenngleich er nicht an die Erfolge aus dem Vorjahr anknüpfen konnte. Da siegte er etwa bei dem Extremmarathon Grand Raid, wo das Rad die letzten 400 Höhenmeter bis ins Ziel getragen werden muss - nachdem 4500 Höhenmeter schon in den Beinen stecken, versteht sich.
In diesem Jahr war es etwas anders. Eine Vorbereitung auf die zweite Saisonhälfte, in der Seewald seinen Titel beim Grand Raid verteidigen wollte und die Weltmeisterschaften anstanden, war kaum vorhanden. Denn der 28-Jährige begann im Juni den freiwilligen Wehrdienst bei der Bundeswehr und befand sich in der entscheidenden Trainingsphase in der dreimonatigen Grundausbildung. "Das war trainingstechnisch schwierig", sagt Seewald. Dennoch gelang es ihm, sich im Vergleich zur WM im Vorjahr zu verbessern. "Ich bin einfach meinen Stiefel durchgefahren. Bergab war ich vorsichtig, aber bergauf war ich schon ziemlich gut dabei", meint Seewald. Den Trainingsrückstand habe er vor allem bei den Sprints am Ende gemerkt, "da hätte ich nicht mehr mithalten können".
Bei den Weltmeisterschaften in der Schweiz war er Achter und damit bester Deutscher
2017 bestritt er für ein Jahr Rennen mit Profivertrag für das Kreidler Werksteam. Dann löste sich die Mannschaft auf und er wechselte in sein jetziges Team, das zwar viel Herzblut für den Sport hat, aber wenig finanzielle Mittel. Von seinem neuen Job bei der Bundeswehr erhofft sich der gelernte Elektroniker für Automatisierungstechnik, dass er mehr Zeit hat für das Training. Bisher hat er parallel immer gearbeitet. "Jetzt kann ich von der Kaserne aus mit dem Rad trainieren und im Arbeitsalltag machen wir sowieso sehr viel Sport", sagt Seewald.
In Frankreich gelingt es Seewald, sich nach der Startphase gut im Feld zu platzieren. Für ihn gilt: je länger das Rennen, umso besser. Doch nach dem ersten Drittel der Strecke stoppt ihn ein Defekt in der Verfolgergruppe liegend. Die nächste technische Zone, in der Werkzeug und Ersatzmaterial bereitstehen, ist noch 15 Kilometer und 580 Höhenmeter entfernt. Die schnelle Reparatur reicht nicht aus, um den Defekt am Rad zu beheben. Er muss wieder und wieder vom Rad und verliert so Zeit und Platzierungen. Das ist das Risiko seines Sports: Zwischen zehn und 20 Trainingsstunden in der Woche bringt Seewald zusammen, auf dem Mountainbike, im Kraftraum aber auch auf den Tourenski im Winter - und wenn dann die Form stimmt und der Körper zu Spitzenleistungen in der Lage ist, müssen auch alle Teile am Karbonrad fehlerfrei funktionieren.
Physiotherapeuten oder Mechaniker gibt der Etat nicht her, die Logistik ist Eigenleistung
Nur wenige Fahrer können vom Mountainbike-Marathon leben, für Grenzfälle wie Seewald ist die Vereinbarkeit von Leistungssport und Berufsleben eine Herausforderung. Seewald startet für das kleine Team Rocklube, das von einem Specialized-Händler aus München unterstützt wird. Der Lenggrieser ist der erfolgreichste Fahrer des Teams. Neben ihm bestreiten für den Rennstall vier weitere Sportler nationale und internationale Marathon-Rennen. Einer davon, Julian Philipp, ist zugleich Teammanager. In der kommenden Saison würde er Seewald am liebsten einen ebenbürtigen Fahrer zur Seite stellen, um an dem renommierten südafrikanischen Etappenrennen Cape Epic teilnehmen zu können, das in Zweierteams bestritten wird. Das achttägige Langstreckenevent gilt als das härteste Etappenrennen der Welt. Im Moment laufen Gespräche mit einem der schnellsten deutschen Langstreckenspezialisten. "Das wäre eine brutale Paarung", meint Philipp, der noch keinen Namen nennen will. "Die beiden hätten sicher Chancen, um den Sieg mitzufahren und wären mit Sicherheit das stärkste deutsche Duo."
Ob das Duo sich tatsächlich findet, hängt allerdings davon ab, ob es Philipp gelingt, weitere Sponsoren zu gewinnen. Noch hat das Team kein Profi-Budget, Material- und Reisekosten sind oftmals limitierende Faktoren. Physiotherapeuten oder Mechaniker gibt der Etat nicht her, die Logistik und Organisation ist bisher Eigenleistung. Bei einem über hundert Kilometer langen Marathonrennen bedeutet dies eine zusätzliche Herausforderung, die meistens von Familienangehörigen gestemmt wird. Nach Südfrankreich reiste Leistungsträger Seewald mit seinem Bruder an, der ebenfalls startete. Kurzfristig fanden sich vor Ort zwei Bekannte, die die Verpflegung übernahmen und Material in die technischen Zonen brachten.
An der französischen Mittelmeerküste entscheidet sich Seewald bei 15 Minuten Rückstand zur Spitze dazu, das Rennen Rennen sein zu lassen. Dafür macht er an den vom Veranstalter zur Verfügung gestellten Verpflegungsstationen Halt, die er normalerweise ignorieren würde. Auch schön, wenn man mal nicht an der Spitze um den Sieg mitfährt und es auf Sekunden ankommt. Und bis zum seinem großen Projekt Cape Epic im März sind es ja noch ein paar Monate. Sofern ein "Wunder geschieht", wie es Seewald formuliert.