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Lewis Hamilton siegt in Brasilien:Vom Himmel zur Hölle und wieder zurück

Erst Disqualifikation und Strafversetzung, dann Triumph: Lewis Hamilton feiert in Brasilien eine irrwitzige Kombination aus sportlichem Absturz und anschließender Auferstehung. An zwei Tagen macht er 24 Positionen gut und gewinnt das Rennen.

Von Philipp Schneider

48 Runden waren gefahren in diesem ohnehin schon unterhaltsamen Großen Preis von Brasilien, als der Funkverkehr zwischen den Teams und der Rennleitung das Entertainment-Niveau auf eine ungeahnte Ebene hob. Im Kampf um die Führung war Lewis Hamilton soeben auf der Zufahrt zu Kurve vier mit seinem Silberpfeil fast ins Heck des Red Bulls von Max Verstappen gestoßen. Er zuckte zur Seite, schoss rechts vorbei an seinem Rivalen. Doch Verstappen fuhr Kampflinie, bremste spät auf der Innenseite, drängte Hamilton nach außen, beide Autos retteten sich gerade so in die Auslaufzone.

"Its all about: Let them race", funkte Red Bull sogleich an die Rennleitung. Es wäre doch ganz wunderbar, ließe man die Rennfahrer Rennfahrer sein und würde keine Strafen aussprechen, sollte das heißen. Und siehe da: Die Rennkommissare hielten es nicht einmal für nötig, sich das zumindest diskutable Verteidigungsmanöver Verstappens genauer anzusehen. Dass sie nicht sofort für heftige Diskussionen sorgte, lag allein an der knackigen Antwort, die Hamilton sogleich auf der Strecke folgen ließ: Wenige Runden später schoss er an derselben Stelle abermals vorbei an Verstappen - und fuhr tatsächlich als Sieger über die Ziellinie.

Drei Rennen sind noch zu fahren, Verstappens Vorsprung beläuft sich nur noch auf 14 Punkte

"Beautiful work, Lewis", funkte Mercedes. Was für eine Untertreibung! Der siebenmalige Weltmeister hatte eine irrwitzige Kombination aus sportlichem Absturz und anschließender Auferstehung gefeiert, die jeglicher Wahrscheinlichkeit höhnte: Weil er seinerseits massive Probleme mit der Rechtsprechung hatte und in der Addition um satte 24 Plätze zurückversetzt worden war. In Brasilien stieg Hamilton einmal vom Himmel in die Hölle hinab und wieder zurück. Denn an zwei Tagen machte er 24 Positionen wieder gut.

Dritter wurde Hamiltons Teamkollege Valtteri Bottas. Drei Rennen sind noch zu fahren, Verstappens Vorsprung beläuft sich nur noch auf 14 Punkte. "Wenn sie diese Motorleistung bis zum letzten Rennen festhalten können, dann schaut es nicht gut aus", klagte Red Bulls Motorsportberater Helmut Marko. Und Mercedes-Teamchef Toto Wolff tobte trotzdem. Die Nichtbestrafung von Verstappen sei "eine absolute Sauerei", sagte er später. Der sei zwar "sensationell mit dem Messer zwischen den Zähnen" gefahren. "Aber wenn du es machst, musst du mit einer Fünf-Sekunden-Strafe rechnen." Das Manöver als Rennvorfall abzutun und "unter den Teppich zu wischen, ist eigentlich peinlich für die Rennleitung", befand Wolff.

Je nachdem, welchem Lager einer anhing, dem von Mercedes oder Red Bull, werteten die Fans schon die Geschehnisse am Samstag als Farce oder Gerechtigkeit. Zweieinhalb Stunden vor dem Sprint am Samstag hatten die Kommissare die am Freitag herausgefahrene Pole Position von Hamilton aberkannt. Die Spalte zwischen den beiden Heckflügelelementen an seinem Auto sei größer gewesen als die erlaubten 85 Millimeter. Herausgekommen war dies bei Tests, die der Automobilweltverband Fia nach der Qualifikation an mehreren Fahrzeugen durchgeführt hatte. Seine Strafversetzung ans Ende des Feldes des sogenannten "Sprints" am Samstag konterte Hamilton mit einem Rennen wie ein Hammerschlag. In 24 Runden, auf einer Distanz von gerade einmal 100 Kilometern, überholte er 15 Autos und fuhr vor von Platz 20 auf Rang fünf.

"Ihr könnt uns alle mal", funkte Wolff angesichts der berauschenden Fahrt seines Chef-Chauffeurs trotzig. Weil der allerdings den bereits fünften Motor in dieser Saison ins Auto geschraubt bekommen musste, wurde er für das Rennen am Sonntag fünf Parkbuchten weiter nach hinten geschoben.

Wie schon beim vergangenen Rennen in Mexiko verliert Bottas den Start gegen Verstappen

Schon am Samstag hatten die gefühlten Spannungen in der Formel 1 einen neuen Höchstwert erreicht. Die Unregelmäßigkeit an Hamiltons Heckflügel sei aus seiner Sicht eine "Bagatelle", kritisierte Wolff. Die Abweichung sei so gering gewesen, dass sich das Problem auf dem kleinen Dienstweg hätte beheben lassen. Jo Bauer, der Technische Delegierte der Fia, hätte den Fall aus Wolffs Sicht niemals an die Kommissare melden sollen. "Wir hatten keinen illegalen Flügel, sondern einfach einen Schaden, der sich so geäußert hat, dass es links okay war, in der Mitte okay war und rechts vielleicht 0,2 Millimeter gefehlt haben", sagte er. Wolff erzählte, er habe den Urteilsspruch im ersten Moment für einen "Witz" von Team-Sportdirektor Ron Meadows gehalten, als dieser ihn von der Strafversetzung unterrichtete.

Als Trost blieb den Silberpfeilen, dass Hamiltons Teamkollege Bottas im Sprint Verstappen überholt hatte und deshalb als Erster ins Rennen rollen durfte. Zumindest in der Theorie.

Die Ampeln gingen aus, und Bottas rollte den zwei Red Bull sogleich einen roten Teppich aus. Wie schon beim vergangenen Rennen in Mexiko verlor er den Start gegen Verstappen. Diesmal versuchte Bottas zumindest, ihm den Weg auf der Innenseite der Linkskurve zu versperren, aber der Niederländer war zu schnell. Genau wie sein Teamkollege Sergio Perez, der sich ein paar Kurven später ebenfalls an Bottas vorbeischob. Aber all das war nichts im Vergleich zum Furor, mit dem Hamilton loslegte. Um vier Positionen katapultierte er sich gleich in der ersten Runde nach vorne, nach fünf Umdrehungen war er schon Vierter - dann ließ ihn Bottas passieren. Und so begann seine Jagd.

Und wenn es läuft, dann kommt halt manchmal das Rennglück dazu. Weil Yuki Tsunoda seinen Frontflügel nach einer Kollision mit Lance Stroll verloren hatte, rollte das Safety Car auf die Strecke. Hamilton rückte auf, schloss die Lücke, sein Rückstand von fünf Sekunden war verflogen. "Sagt Valtteri, er soll dranbleiben. Wir schnappen uns die Kerle", funkte Hamilton.

Nach neun Runden gab es einen fliegenden Start, der die Reihenfolge vorne nicht verwirbelte. Kurz darauf aber: die nächste Unterbrechung. Mick Schumacher demolierte sich den Frontflügel bei einer Kollision mit Kimi Räikkönen. Das Virtuelle Safety Car wurde aktiviert und nach 14 Runden wieder ausgeschaltet. Viermal kreiste Hamilton dicht im Nacken von Perez, dann überholte er ihn am Ende der Start- und Zielgerade. Perez gab nicht auf, er konterte drei Kurven später und schob sich vorbei. Hamilton probierte es erneut, wieder in Kurve eins. Und diesmal konnte der Mexikaner nicht nochmals nachlegen. Aber er war großartig gefahren - und vor allem fair. Und Hamilton war nun schon Zweiter.

Das Duell hatte ihn Zeit gekostet, dreieinhalb Sekunden kreiste er hinter Verstappen. Nach 27 Runden setzte er den Niederländer unter Druck, indem er als erster seine Box ansteuerte: mit einem sogenannten "Undercut". Verstappen konterte unmittelbar - die Reihenfolge änderte sich dadurch nicht, aber sein Vorsprung auf den Briten war geschmolzen. Noch ärgerlicher aus Sicht von Red Bull: Weil Mercedes ein Virtuelles Safety Car (Strolls Aston Martin verlor Teile) geschickt für den Stopp von Bottas nutzte, schaffte der es vorbei an Perez. "Einen weiteren Undercut sollten wir besser nicht hinnehmen", funkte Verstappen.

Alles klar, dachten sich seine Strategen: Mit dem zweiten Garagenbesuch kam Red Bull dann auch Mercedes zuvor. Verstappen hielt nach 40 Runden, und Mercedes rief zunächst Bottas in die Versorgungsgasse. Hamilton kreiste munter weiter, ganze drei Umdrehungen. 2,7 Sekunden lag er nach seinem Werkstattbesuch hinter Verstappen - jetzt aber drehte er so richtig auf. Im zweiten Überholversuch schnappte er sich einen Rennsieg, den er am Samstag noch selbst für unmöglich gehalten haben dürfte. Und da wird er es wohl auch verkraften, dass er ein drittes Mal mit dem Gesetz in Konflikt geriet: Am Abend bestraften ihn die Regelwächter dafür, dass er auf der Auslaufrunde seinen Sicherheitsgurt vorzeitig gelöst hatte: mit 5000 Euro Geldbuße.

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