Süddeutsche Zeitung

Olympia:Lieber Tarzan als Tierquäler

Der Moderne Fünfkampf, dieser alte olympische Sport, sucht nach dem absurden Springreit-Finale von Tokio eine neue Disziplin. Wie es aussieht, hat er sie nun gefunden.

Von Volker Kreisl

Ein Abenteuerspielplatz also: Athleten hangeln sich an Stangen entlang, balancieren über Schwebebalken, schwingen an Tarzans Seil, überwinden sogenannte A-Frames und erklettern gebogene Wände, genannt Tsunami Wall.

Der Moderne Fünfkampf sollte sich erneuern, er steckt immer noch in einer Existenzkrise, aber muss das nun sein? Ausprobiert wurde diese Woche in Ankara eine neue fünfte Disziplin für diesen Sport. Durchgeführt wurde dabei ein erster Wettkampf an den ungewohnten Geräten. Diese Art Turnen, Springen und Sprinten schaut vielleicht schick aus, aber ist das noch der gute alte Moderne Fünfkampf, der schon vor 110 Jahren erstmals olympisch war? Oder ist es eher eine Mischung, irgendwie aus Freizeit-Parcours und Michael Schanzes "Spiel ohne Grenzen" aus den Siebzigerjahren?

Tatsächlich muss man zugeben, dass eher die aktuelle TV-Show mit den Ninja-Warrior-Duellen des Senders RTL Vorbild war. Unabhängig davon ist längst ist klar, dass das von Pierre de Coubertin, dem Erfinder des modernen Olympias ersonnene Pentathlon-Format reformiert werden muss, wenn es überleben soll.

"Wir degradieren ein Lebewesen zu einem Sportgerät", sagt der Präsident des deutschen Verbands

Deutlich wurde dies vor gut elf Monaten, bei den Sommerspielen in Tokio. Dort bemerkte wenige Minuten nach ihrem Wettkampf die Athletin Annika Schleu, dass ihre Multifunktionsuhr am Handgelenk nicht mehr aufhörte zu vibrieren. Sie wusste sofort, was ihr blühte, sie war ohnehin schon am Boden zerstört und konnte doch nicht anders und schaute irgendwann in ihre Accounts in den sozialen Medien. "Das Schlimmste", sagte Schleu später dem TV-Sender RBB, seien nicht die doch recht abstrakten Morddrohungen gewesen, sondern der konkrete Vorwurf der Tierquälerei.

Was sollte Schleu machen? Tatsächlich hatte sie ihr Pferd "Saint Boy" derart traktiert, mit den Stiefeln und der Gerte, das Ganze weltweit übertragen, dass kein Zweifel bestand: Sie hatte das zulässige Maß des Einsatzes überschritten. Da half es Schleu auch nicht, dass ihr eine derartige Entgleisung noch nie passiert war. Jetzt war sie die Tierquälerin, und wie es sich bald ergab auch noch die Totengräberin ihres auf die Tradition so stolzen und vielseitigen Olympiasports in der herkömmlichen Form mit Schwimmen, Fechten, Schießen, Laufen und - letztmals Reiten.

Doch so unmöglich es klingt, vielleicht hatten die Ereignisse von Tokio trotz der Szenen, der vielen Tränen und der plötzlichen Verweigerung von Saint Boy auch ihr Gutes. Denn Tradition wirkt auch schnell altbacken. Nicht umsonst war diese Vereinigung der einstigen Grunddisziplinen des Militärs lange kein Publikumserfolg und einem kleinen Kreis von Sportlern zugänglich. Immerhin, seit die beiden letzten Disziplinen Schießen und Laufen zu einer Art Kurz-Biathlon zusammengespannt wurden, bleibt es bis zum Schluss spannend.

Dennoch, das Problem Reiten war bis zuletzt nicht gelöst. Der ehemalige deutsche Frauen-Bundestrainer und heutige Fünfkampf-Präsident Michael Dörr hatte schon länger erkannt, dass das Reiten auf zugelosten Fremdpferden den Wettkampf verzerrt und anders als bei den Reitspezialisten keine Beziehung zwischen Mensch und Tier entstehen kann: "Wir losen ein Pferd zu und müssen gucken, wie wir klarkommen. Insofern degradieren wir ein Lebewesen zum Sportgerät", sagte er nun der Deutschen Presse-Agentur.

Der Lauf durch den Ninja-Parcours hat Vorteile: Jeder kann's versuchen und Spaß macht es auch

Darin lag auch der Grund, weshalb Schleu so absurd vor aller Welt gescheitert und blamiert worden war. Selten hatte sich ein Wettkampf gegen eine einzelne Person derart zugespitzt. Schleu war am 5. August 2021, dem Finaltag, in bester Verfassung in den Reitwettkampf gegangen, sie stand an der Spitze des Feldes, hatte den Olympiasieg vor Augen. Als sie auf den Reitplatz trat, durfte sie zwar anders als sonst das Stück mit Saint Boy nicht zum Start reiten, was dem Pferd vielleicht ein Stück mehr Vertrauen in Schleu gegeben hätte. In Tokio gingen die beiden wie alle zu Fuß zum Start.

Dennoch: Als sie im Sattel saß, deutete noch nichts auf ein Problem hin, sie klopfte Saint Boy auf die Schultern, ritt los, überwand die ersten Hindernisse; ehe Saint Boy, der schon eine andere Reiterin zur Verzweiflung gebracht hatte - offenbar verunsichert - nur noch verweigerte. Später dachte Schleu, mit etwas mehr Besonnenheit hätte sie erkennen müssen: "Okay, das hat keinen Sinn mehr. Weder für das Pferd, noch für mich, noch für den Wettkampf, hier beende ich das." Jedoch - wer macht das schon, in der vielleicht einzigen Stunde des Lebens, in der er mit weitem Vorsprung bei Olympia auf Platz eins liegt?

Unbestritten ist somit heute, dass dieser alte Sport nur überleben wird, wenn er sich weiterhin bewegt. 2024 in Paris wird ein letztes Mal geritten, für Los Angeles 2028 zählt der Fünfkampf im Moment nicht zum Programm - es sei denn, er entwickelt sich Stück für Stück weiter und präsentiert eine überzeugende neue Disziplin, die interessant und spannend ist und ein jüngeres Publikum anzieht. Irgendeine Leichtathletiksparte? Ringen? Oder vielleicht doch eine Mischung aus hartem Sport und spielerischen Elementen.

Die Testsportler in Ankara waren beim ersten Fünfkampf-Ninja-Parcourstest jedenfalls angetan. Der französische Junioren-Fünfkämpfer Cédric Chatellier lobte diesen Parcours, auch wenn dieser "für Arme und Hände ziemlich hart ist. Aber mit ein bisschen Eingewöhnung haut das schon hin." Die Australierin Olivia Vivian wies wiederum darauf hin: "Diese Disziplin kann jeder versuchen. Sie zu erlernen, ist viel billiger als reiten - und sie macht auch noch Spaß."

Vielleicht ist der Abenteuerspielplatz für die Fünfkämpfer jetzt doch genau das Richtige.

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