Mixed Martial Arts in München„Echt scheiße, die Sportart“

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„Ich will kämpfen, bis ich sage: Das war’s. Ich will nicht mehr“: MMA-Kämpfer Shota Gvasalia beim Training am Münchner Nordbad.
„Ich will kämpfen, bis ich sage: Das war’s. Ich will nicht mehr“: MMA-Kämpfer Shota Gvasalia beim Training am Münchner Nordbad. (Foto: Stephan Rumpf/Stephan Rumpf)

Shota Gvasalia steigt in einen Maschendrahtkäfig, um seine Gegner blutig zu schlagen und selbst zu bluten. Warum er seit 15 Jahren eine Sportart praktiziert, die er selbst heftig kritisiert – und die er seinen Kindern verbieten würde.

Von Valentin Erhardt

Nach dem Fortgeschrittenen-Training steht Shota Gvasalia im oberen Stockwerk des Munich MMA, Wundspray und Werkzeug in den Händen. Unten hört man Männer keuchen, das dumpfe Klatschen von Fäusten auf Bauchmuskeln und nackte Füße auf Matten. Mit starkem Akzent sagt Shota: „Ich werde jetzt kleine OP machen.“ Er beugt sich über seinen verschwitzten Schüler Luca und sprüht ihm das Wundspray gegen die Schläfe, dann kommt er noch mal kurz hoch. „In Georgien, ich habe zehn Jahre Medizin studiert, Bro.“ Noch ein Grinsen, diesmal mit Augenzwinkern. Dann taucht er wieder ab, setzt die Spritze an Lucas geschwollene Ohrmuschel und sticht hinein.

Luca verzieht das Gesicht. Shota zieht langsam den Kolben nach hinten. Drei Milliliter gelblich-rotes Blut sickern in den Plastikbehälter, während die Wölbung unter der Haut in sich zusammenfällt wie ein Ballon, dem jemand das Helium aussaugt. Dann zieht Shota die Nadel aus der Haut und schraubt sie ab. Luca löst seine verkrampften Hände von der Tischplatte. Shota überreicht ihm den Blutbehälter, spritzt ihm noch einmal Wundspray auf das Ohr und gibt ihm ein paar Taschentücher. „Drückst du paar Minuten drauf vor dem Duschen.“ Sein Schüler nickt und bewundert das halb volle Behältnis. Das frisch operierte Ohr sieht wieder normal aus. Wenn er es schont, verheilt der Bluterguss, womöglich sogar ohne Spuren zu hinterlassen. Doch sein anderes Ohr ist bereits verknorpelt.

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Mit dem Tuch am Ohr geht Luca die Treppe hinunter. Shota klaubt die Verpackungen und die gebrauchte Nadel der Einwegspritze zusammen, dann duckt er sich auf dem Weg zum Mülleimer unter den Medaillen hinweg, die überall im Raum von den Dachbalken hängen. Keine der Medaillen stammt von ihm.

Shota Gvasalia ist durchschnittlich groß und überdurchschnittlich breit. Wenn er sein Gewicht auf einen Gegner hinunterdrückt, treten die Adern an seiner Glatze hervor, genauso wie die Sehnen seiner Unterschenkel. Außerhalb des Käfigs lacht er oft und schallend, und irgendwie hört man sogar in seinem Lachen den georgischen Akzent. Das einzig Weiche an seinem kantigen Kopf ist der dunkle Vollbart: Die Nase sieht aus, als hätten unzählige Schläge sie über die Jahre platt gedrückt, eine Ohrmuschel wirkt aufgebläht und fühlt sich so fest an wie ein Knochen. Genau wie bei seinem Schüler ist das die Folge eines Blutergusses, die Kampfsportler häufig ereilt: Ein Blumenkohlohr, in dem Knorpel wuchert.

Im Training sind Schläge am Boden verboten: zu gefährlich. Dafür gibt es die Wettkämpfe

Shota, den hier alle beim Vornamen nennen, ist ein Kämpfer. Er kämpft, seitdem er 13 ist. Mit Kickboxen hat er angefangen, in seinem Heimatland Georgien. In der Schule wurde er gemobbt und wollte sich wehren, wollte Selbstverteidigung lernen, um Angst und Depressionen zu bezwingen. Zeit seines Lebens zieht es ihn fort von Zuhause, von Verwandten zu Verwandten. Zuerst kam er nach Russland, wechselte dort vom Kickboxen zum aus der Sowjetunion bekannten Sambo, dann in den USA zu Kraftsport, bis er in Deutschland schließlich MMA kennenlernte: Mixed Martial Arts. Die Kampfsportart, die Kickboxen, Sambo und die meisten anderen Disziplinen in sich vereint, aber wenige Regeln besitzt. Schlagen, Treten und selbst Würgegriffe sind erlaubt; auch am Boden geht der Kampf weiter, solange keiner der Kämpfer ohnmächtig wird, abklopft oder der Schiedsrichter das Match abbricht. Es ist diese Kampfsportart, in der Shota Gvasalia seit 2012 Profikämpfe absolviert und andere unterrichtet. Die, von der er sagt: „Echt scheiße, die Sportart.“

Fünf Tage die Woche trainiert Shota Kinder und Erwachsene im Munich MMA. Die Trainingshalle am Nordbad sieht wie ein großer Glaskasten aus, innen ist er mit grauen Matten ausgelegt. Am Samstag um neun Uhr zeigt er auf diesen Matten Anfängern die Grundlagen: Wie man die Distanz zu einem Gegner verkleinert, wie man ihn zu Boden zwingt und wie man dort die Kontrolle über den Kampf behält. Zuerst führt er die Techniken praktisch vor, dann lässt er die Schüler in Paaren üben, zwischen denen er wachsam umherstreift. Immer wieder unterbricht er ein Paar, um einen Tipp zur Beinarbeit oder Schlaglänge zu geben. Meistens sagt er nur: „Mach so“, und zeigt dann, wie das „so“ aussehen soll. Wer sich geschickt anstellt, den spricht er nickend mit „Maschine“ an.

Nach einer Viertelstunde Training riecht das Gym nach warmen Matten und Schweiß, der den jungen Männern und Frauen vom Gesicht tropft. Aus der kniehohen Musikbox hinten im Raum schallen 2Pac, Dr. Dre und The Game; laut genug, dass der Brustkorb vibriert. Wann immer einer der Fortgeschrittenen das Gym durch die automatische Tür betritt, kühlt die Luft von draußen den Raum.

Shota Gvasalia simuliert im Training den Bodenkampf.
Shota Gvasalia simuliert im Training den Bodenkampf. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Laufe des Vormittags mahnt Shota seine Schüler immer wieder, aufeinander aufzupassen. Schläge am Boden sind verboten, sie werden nur angetäuscht, um dem Partner zu signalisieren, dass er in einem echten Kampf angreifbar wäre. In Shotas Training soll niemand sich ernsthaft verletzen – wer unbedingt möchte, kann das bei einem Wettkampf riskieren.

Shota hat in 23 Profikämpfen Verletzungen erlitten, die andere zum Aufhören bewegt hätten: Die Sehnen beider Brustmuskeln sind gerissen, in seinem linken Bein existiert der Muskel Vastus medialis nicht mehr, der an der Innenseite des Oberschenkels verlaufen sollte. 2018 riss es seinen Unterarm aus dem Gelenk, als er einen Sturz instinktiv abbremsen wollte. Sein Ellenbogen knickte in die falsche Richtung, während er am Boden lag und schrie. Im Kampf gegen den Deutschen Tim Richter vor zwei Jahren kassierte er so viele Schläge gegen den Kopf, dass die Haut aufplatzte. Er erzählt, wie er versuchte, die entstehende Blutfontäne in die Augen seines Gegners zu lenken.

In diesem Sport nehme man eben Schaden, meint Shota, und zwar vor allem am Kopf. Andererseits müsse man auch einen Schaden mitbringen, um den Sport anzufangen. Shota selbst hat es im MMA nie auf ein Level geschafft, das diesen Schäden genug Geld entgegensetzen würde: Er bekommt zwischen 800 und 3000 Euro pro Kampf, ganz anders als Männer wie der Ire Conor McGregor, die Millionen verdienen. Trotzdem kann Shota nicht aufhören.

Er hat es versucht. Mit 20 Jahren, sagt er, steigerte seine Depression sich zur Psychose und er landete in der Psychiatrie. Als er wieder herauskam, riet seine Familie ihm, nicht mehr zu kämpfen. Shota folgte ihrem Rat. Sein Visum war mit der Entlassung aus der Klinik sowieso abgelaufen, also zog Shota nach Georgien zurück und ließ die MMA-Karriere ruhen.

Ohne den Sport rutschte er aber tiefer in seine Depression und nahm 35 Kilogramm zu. Damit wog er auf 1,82 Metern knapp 122 Kilo. Der Wunsch zu kämpfen verging nicht. Nach drei Jahren entschloss er sich, ihm wieder zu folgen; alles sei besser, als nichts zu machen. Mit einem Ziel vor Augen würde sein Leben sich wieder drehen. Er zog nach Deutschland zurück.

Jetzt ist Shota 36 und hat fast genauso viele Kämpfe verloren, wie er gewonnen hat. Keine gute Bilanz. Vor allem keine, die Planbarkeit ermöglicht, weil es für die wenigsten Kämpfer etwas zu gewinnen gibt, wenn sie mit ihm in den Käfig steigen: Wer ihn besiegt, erntet keinen Ruhm, wer gegen ihn verliert, verschlechtert die eigene Bilanz. So kommen kaum Kämpfe zustande, für die Shota gezielt trainieren könnte. Also kämpft er kurzfristig.

„Das macht Spaß, aber das macht keinen Spaß, gleichzeitig.“

Optimalerweise, sagt Shota, legt man sich eine Strategie zurecht und trainiert zwei bis drei Monate auf einen Kampf. In der Zeit übt man Bewegungsmuster ein, damit sie zur Gewohnheit werden. Im Kampf sei keine Zeit, nachzudenken, also müsse der Körper die richtigen Bewegungen automatisch ausführen. Zusätzlich macht Shota in der Woche vor dem Kampf eine Extremdiät, durch die er etwa zehn Kilogramm abnimmt, um in der richtigen Gewichtsklasse zu landen. Dafür trinkt er zunächst viel Wasser, damit sein Körper Flüssigkeit ausscheidet – auch dann noch, wenn Shota gar kein Wasser mehr zu sich nimmt. Zwei Tage lang verzichtet er auf Salz und reduziert schrittweise den Konsum von Kohlenhydraten. Nur durch ein paar Datteln während seiner Work-outs bleibt er bei Kräften. Am Tag vor dem Wiegen schwitzt er in Sauna oder Badewanne das restliche Gewicht aus. Das alles sei der einfache Part.

Schwer sei es, in den 30 Stunden, die zwischen Wiegen und Kampf verbleiben, ausreichend zuzunehmen. Denn man habe riesigen Hunger, aber einen sehr kleinen Magen, der nur wenig verträgt. Also isst Shota bis zu sieben kleine Mahlzeiten über den Tag verteilt und trinkt in kleinen Portionen. So ließe sich das verlorene Gewicht schnell wiederherstellen. Und im Käfig bedeute jedes zusätzliche Kilo einen Vorteil.

Er gibt sich noch zwei Jahre, bevor es „traurig“ sei, im Käfig zu stehen. Spätestens mit 40 müsse Schluss sein, sagt er, dann müsse er sich für die zweite Lebenshälfte etwas anderes suchen. Doch er sagt auch: „Ich will kämpfen, bis ich sage: Das war’s. Ich will nicht mehr.“

Die Realität im Käfig: Blutiger MMA-Kampf zwischen Belal Muhammad (oben) und Jack Della Maddalena im Mai 2025 in Montreal.
Die Realität im Käfig: Blutiger MMA-Kampf zwischen Belal Muhammad (oben) und Jack Della Maddalena im Mai 2025 in Montreal. (Foto: Graham Hughes/Zuma Press/Imago)

In die Ultimate Fighting Championship, kurz UFC – so etwas wie die Champions League der MMA –, schaffe er es sowieso nicht mehr, für eine solche Karriere ist er zu alt. Und selbst wenn er einen Kampf gewinnt, zugerichtet ist Shota danach sowieso. Wenn er erzählt, welche Schmerzen er in der Nacht danach hat, wirkt er weder verträumt noch stolz. Eher so, als akzeptiere er, worauf er sich eingelassen hat. „Das macht Spaß, aber das macht keinen Spaß, gleichzeitig.“ Er tippt auf sein Knie, wo der Oberschenkelmuskel fehlt. Diesen Kampf hatte er gewonnen.

Wenn ein Schüler im Munich MMA Wettkämpfe bestreiten will, dann rede er ihm nicht ins Gewissen. Wer den Kampf braucht, wolle nicht hören, dass er es lassen sollte. Nur wenn jemand zweifelt oder ihn nach seiner Meinung fragt, versucht Shota, ihn davon abzubringen. Ob man im MMA Geld verdient, sei Glückssache, der Kopfschaden aber sei garantiert. Wenn er Kinder hätte, würde er ihnen verbieten, jemals an einem Wettkampf teilzunehmen.

Unter seinen Schülern tummeln sich eine Handvoll „Maschinen“, denen er echte Chancen im MMA einräumt. Denen empfiehlt er, zwei bis drei Jahre All-in zu gehen: Wenn sie in diesen Jahren viele Siege erringen, das Interesse von Fans wecken und Zugang zur UFC finden, können sie das Risiko eingehen und sich für den Lebensstil des Profikämpfers entscheiden. Wenn nicht, sollten sie den Traum aufgeben. Das Schlimmste sei, wenn jemand zu lange daran festhalte. Dann stehe man mit Ende 20 da, ohne Abschluss oder Berufsqualifikation. „Was hast du dann?“, fragt Shota grimmig.

Shota hat an seinem Traum festgehalten. Warum, darüber habe er immer wieder nachgedacht, ohne eine Antwort zu finden, von der er überzeugt ist. Also hat er mehrere. Eine Antwort ist, dass ihm das Kämpfen hilft, sein Leben zu strukturieren. Eine andere, dass in ihm immer noch Energie steckt, um ein paar gute Kämpfe abzuliefern. Wieder eine andere ist, dass man das wird, was man macht. Das klingt dann so: „Du fängst irgendwas an als Kind, und dann ist das hier deine ganze Identität, weißt du? Du kämpfst. Du bist Kämpfer.“

Am Ende des Anfängertrainings stellen sich die Schüler in einer Reihe auf. Shota steht ihnen gegenüber und bedankt sich zuerst für ihr Kommen. Keiner hat sich verletzt, nur einer hat geblutet. „Entspannte Stunde“, resümiert Shota. Dann klatschen sich alle einmal ab und verschwinden zum Duschen in den Keller des Gyms. Shota wischt mit einem Mopp ihren Schweiß von den Matten.

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